Vom Junkfood zum Tröpfeldrama

Wie kann es angehen, dass die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ihrer Lieblingszielgruppe trotz Zwangsabgabe allvorabendlich unappetitliche Unterleibsthemen am Stück aufdrängen dürfen? In jeder Werbepause die nämliche Leier. Nervensägende Empfehlungen zur Vertuschung von Inkontinenz, der medikamentösen Abhilfe einer soliden Verstopfung oder infernalischer Flatulenzen. Anhand der bereitgestellten Statistik zu Beginn eines der unsäglichsten Spots soll dem Blasenschwächling vor der Mattscheibe wohl aufmunternd signalisiert werden, dass er mitnichten allein mit seinem urinösen Thema ist. Sondern offenbar jeder vierte deutsche Schwanzträger ab dem vierzigsten Lebensjahr gewahr sein muss, dass sein ganzer Stolz jederzeit unpassend und schmählich in Feinripps und Bollerbux entwässern könnte. Und wer möchte schon die tragische Figur abgeben, die für Statisten wie zufälliges Publikum kaum etwas als Mitleid, Fremdscham oder ein wieherndes Schenkelklopfen übrig lässt?

Dieser schludrig synchronisierte Aquarianer, aufgrund seiner inkohärenten Mundbewegungen unschwer als Faketeutone zu identifizieren, ist nach eigenem Bekunden von einer solchen Blasenschwäche befallen. Der gute Mann hat freilich vorgesorgt. Hinter der Frontbeule seiner Boxershorts schmiegen sich nämlich nicht nur Schniedel und Skrotum in schwitziger Zweisamkeit. Vielmehr stemmt sich daselbst eine zugefügte, Männerwindel gegen seine allfällige Leckage, wie der poröse Pieselpumpel verwirrend freimütig vorträgt. Der Dentalfriedhof könnte weiteres Indiz für einen allzu losen Umgang mit Reputation und Gesundheit sein. Noch habe ich freilich leicht beckmessern. Weder von unerwünschter Undichtigkeit geplagt, noch mit einer launischen Warenausgabe oder kariösen Futterluke geschlagen – und angesichts solcher Perspektiven durchaus nicht gewillt, mir dergleichen in diesem Leben noch zuzulegen. Obwohl Gesundheit unstreitig genetischen Dispositionen oder Umweltbedingungen unterworfen ist, so ist sie deswegen noch lange kein Selbstläufer. Eingeweichte Frühstücksbrötchen aus der Schnabeltasse lutschen und ein klammes Vlies am Gelerch – so weit solltest du es selbst mit einer kippeligen Selbstachtung bitte nie kommen lassen. Vor allem solltest du damit nicht vor einem Millionenpublikum hausieren gehen.

Die signifikante Zunahme Alter-Leute-Malaisen in mittleren Jahren ist auch Konsequenz einer Bequemlichkeit, die es offensichtlich vorzieht, sich Abführmittel einzupfeifen oder zu windeln, als beizeiten fürsorglich mit dem eigenen Körper umzugehen. Willenloses Suchtverhalten, Trägheit und ein zuviel an Fertigfutter machen auf Dauer nun mal chronisch krank. Insbesondere die Abkehr vom handwerklichen Kochen mit frischen Zutaten erweist sich zunehmend als folgenreich.

Auch Speisenzubereitung muss im Zeitalter des grenzenlosen Konsumismus hurtig und simpel abgetan sein. Wird doch die freud- und lieblos zusammengepanschte und geschmacksgepimpte Fabrikpampe sowieso meist achtlos reingeschippt. Nahrungszufuhr ist längst zur Nebensache verkommen. Zum angeregten Bröckchenaustausch – bei Banalität und Grundsatzdiskussion – zwischen Freund und Fremd. Zu einem halbherzigen Snack auf Heimweg und Faust – bevor der kleine Hunger zuschlägt. Süßsauer oder gepfeffert und versalzen auf der heimischen Sitzlandschaft – jedenfalls in verlässlicher Greifweite von Smartphone und Spielekonsole. Wer heute nicht pausenlos drei Tätigkeiten gleichzeitig gestemmt kriegt, gilt bei überzeugten Multitaskern ohnehin als hoffnungslos hängengeblieben. Hingegen dezenter Gaumenkitzel und unverdünnte Sinnenfreude zunehmend zu entbehrlichen Atavismen verkommen. Das chronisch irritierte Zentralnervensystem muss die fortgesetzten Zumutungen irgendwann beinahe zwangsläufig mit Meuterei quittieren. So verfettet der Gleichzeitler nicht nur häufig an solch zivilisatorischen Auswüchsen, er verblödet auf der ständigen Hatz nach immer mehr Effizienz auch erschreckend.

Dem einmal angefütterten Xenophobiker mag das längst integrierte Angebot hin und wieder gar zur Gretchenfrage geraten: „Nun sag, wie hast du’s mit dem Döner, Brauner?“ Mehr oder minder originäre Schnellimbisse und multinationale Franchises bieten ihren Konfektionsmampf mittlerweile alle paar Meter an. Die meisten ihrer Stammkunden sind Argumenten für eine zuträgliche Ernährung längst entwöhnt – oder nie zugänglich gewesen. In Abermillionen missachteter Kindheiten wurde und wird der Nachwuchs bequemlichkeitshalber mit industriell hochverarbeiteten Lebensmitteln und Fastfood abgespeist. Das mag Gen Y und Z insoweit entschuldigen, dass deren Gewohnheitsfrettchen ihre geschundenen Geschmacksknospen erst gar nicht entwickeln konnten. Oder ein bekömmliches Maß und Ziel irgendwo zwischen McFlurry und einem Bucket liegengelassen haben.

Dabei müsste selbst ein unverbesserlicher Pizzafreund für moderate Selbstfürsorge durchaus nicht von morgens bis abends Rohkost mümmeln. Wer aber kaum den Unterschied zwischen Discounterpizza und einem großherzig belegten Holzofenteigling schmeckt, ist gar nicht mehr so weit weg vom kulinarischen Anspruch einer Schmeißfliege. Der ein frisch ausgeschissenes Steak bekanntlich so recht ist, wie ein rohes oder gekonnt gebrutzeltes.

Komm mir bloß nicht wieder mit dem Surbel, eine augewogene Ernährung sei wesentlich eine Frage finanzieller Möglichkeiten. Sie ist vielmehr Konsequenz persönlicher Prioritäten und eines Einstehens für sich selbst. Die Entscheidung für Lebensmittel, die dieser Zuschreibung auch würdig und wert sind, ist in jeder Preisklasse problemlos möglich. Selbst für ein Meeresfrüchterisotto auf Gemüsebett zahlst du in einer gutgeführten Trattoria selten mehr als für zwei Schachteln Zigaretten. Und zu den Kosten einer selbstgemachten Gemüsesuppe mit Einlage kriegst du wahrscheinlich nicht mal ein Gramm Dope – oder ’ne trinkbare Pulle Fusel.

Um nachhaltige Kontrolle über das eigene Dasein zurückzugewinnen, solltest du allerdings mindestens imstande sein, den Zusammenhang zwischen einer labberigen Grundhaltung und dem Nicht-Scheißen-Können herzustellen.

Dezember in Apulien

Puglia – fuori stagione

Aufgrund traumatischer Erfahrungen wäge ich die Attraktivität potenzieller Wunschdestinationen heute wesentlich sorgfältiger gegen vorhersehbare Beförderungsprobleme ab, als in meinen Wanderjahren. In denen ich vorzugsweise mit dem eigenen Wagen spontan und frohgestimmt ins Blaue reiste – und jedenfalls ungleich unbekümmerter. Ich fahre heute nicht mehr besonders gern Auto, aber die Aussicht auf überfüllte Züge, aushöhlende Verspätungen, gnadenlos engbestuhlte und ausbuchte Flüge, wie insbesondere die aufgenötigte Teilhabe am indiskreten Lebenstheater melodramatisch veranlagter Zeitgenossen, treiben mir erst recht den Stressschweiß aus allen Poren. Schließlich ist menschliche Verletzlichkeit vierschrötiger Lebenswucht und rattengesichtiger Verschlagenheit in wenigen Lebenslagen vergleichbar ausgesetzt, wie bepackt und zielgerichtet. Die Vorstellung ungeniert rumgesprudelter Tröpfcheninfektionen befördert die Vorlust jetzt auch nicht so wirklich.

Piesackt hartgesottenere Naturen eigentlich nie die Frage, ob die saisonalen Völkerwanderungen eine persönliche Inaugenscheinnahme geweckten Fernwehs überhaupt noch wert sind? Wie wappnen sich andere gegen brunzdumme Chuzpe – wenigstens für ein paar Stunden? Mir ist durchaus bewusst, dass ein solch elementares Bedürfnis nach Abgrenzung immer wieder auch der Eventualität potentiell wertvollerer Begegnungen im Weg steht. Zumal allzuviel Eigenbrötelei immer Gefahr läuft, vor den Kopf zu stoßen. Das kannst du selbst als notorischer Kauz kaum wollen. Folglich muss ich für meinen inneren Frieden situativ erzwungener, wie leutselig gesuchter Nähe nach Möglichkeit vorausschauend aus dem Weg gehen. Für allzu aufregende An- und Abreisen habe ich immerhin ein Paar maximal schalldichte Kopfhörer angeschafft.

Selbstredend sei jedem Reisenden überlassen, sich für historisches Gemäuer im schirmgeführten Schwarm, für vielstimmigen Trubel an besenreinen Sandstränden, oder maßlose Buffets und Kampfsaufen in schwülen Partynächten zu begeistern. Ich gehe zum Lachen sicher nicht in den Keller, konnte aber weder mit dieser allgemeinverbindlichen Ausgelassenheit, noch mit stetig sengendem Sommersonnenschein je besonders viel anfangen. So mache ich mich längst nur noch aus dem heimatlichen Staub, wenn ich zuversichtlich sein kann, dem Urlaubsglück anderer schon angesichts klimatischer Wahrscheinlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Wenn meerblaue Träume von Sonne, Strand und Palmen allenfalls weit weg und äquatornah, in einem der landläufigen Herrenmenschenparadiese wahr werden. Gern unter der Gürtellinie und immer wieder auf dem Buckel wirtschaftlicher Ausbeutung.

Was für massentauglich befunden wird, landet über kurz oder lang in mundwässernden Prospekten. Das gilt hin wie her – und hier wie überall. Meine Wunschbilder laufen auf dem katalogisierten Reisemarkt nun mal ins Leere. So muss ich für deren Verwirklichung zwangsläufig selbst Sorge tragen. Konnte mir bei der Urlaubsplanung im letzten Herbst immerhin ausmalen, als Italienreisender vor Weihnachten weniger Konfektion als Kontemplation zu finden.

Was Apulien und Basilikata dem Reisenden im Dezember anbieten, sind erfreulich unaufgeräumte Strände, winterschläfrig vorweihnachtliche Dörfer und die morbide Magie untergegangener Kulturen – ohne unbestellte Einlage. Wenn ich mich, unter dunstig eingetrübtem Laternenlicht und allenfalls in Gesellschaft blätterner Tromben, ziel- und erwartungslos durch entvölkerte Altstadtgassen treiben lassen konnte, war mir das Glück genug. Was Erlebnisgeilheit tödlich langweilen muss, bedeutet mir seit jeher bedürfnisloses Einssein. Zudem die Absenz menschlicher Aufläufe häufig zutage bringt, was unter Geschrei und Gewese der Touristensommer regelmäßig zur Operettendeko verkommt. Bei einem dieser abendlichen Spaziergänge trat ich in Giovinazzo einmal unachtsam auf ein verschmähtes Echo aus der vergangenen Saison. Das hochschreckte und schlaftrunken etwas wie: „how lovely,“ „che bello,“ und „äfach schää“ quäkte, bevor es unwiderruflich im Orkus verschwand. Ich schwöre, stocknüchtern gewesen zu sein und versichere, dass es sich so und kein bisschen anders verhielt.