Dezember in Apulien

Puglia – fuori stagione

Aufgrund traumatischer Erfahrungen wäge ich die Attraktivität potenzieller Wunschdestinationen heute wesentlich sorgfältiger gegen vorhersehbare Beförderungsprobleme ab, als in meinen Wanderjahren. In denen ich vorzugsweise mit dem eigenen Wagen spontan und frohgestimmt ins Blaue reiste – und jedenfalls ungleich unbekümmerter. Ich fahre heute nicht mehr besonders gern Auto, aber die Aussicht auf überfüllte Züge, aushöhlende Verspätungen, gnadenlos engbestuhlte und ausbuchte Flüge, wie insbesondere die aufgenötigte Teilhabe am indiskreten Lebenstheater melodramatisch veranlagter Zeitgenossen, treiben mir erst recht den Stressschweiß aus allen Poren. Schließlich ist menschliche Verletzlichkeit vierschrötiger Lebenswucht und rattengesichtiger Verschlagenheit in wenigen Lebenslagen vergleichbar ausgesetzt, wie bepackt und zielgerichtet. Die Vorstellung ungeniert rumgesprudelter Tröpfcheninfektionen befördert die Vorlust jetzt auch nicht so wirklich.

Piesackt hartgesottenere Naturen eigentlich nie die Frage, ob die saisonalen Völkerwanderungen eine persönliche Inaugenscheinnahme geweckten Fernwehs überhaupt noch wert sind? Wie wappnen sich andere gegen brunzdumme Chuzpe – wenigstens für ein paar Stunden? Mir ist durchaus bewusst, dass ein solch elementares Bedürfnis nach Abgrenzung immer wieder auch der Eventualität potentiell wertvollerer Begegnungen im Weg steht. Zumal allzuviel Eigenbrötelei immer Gefahr läuft, vor den Kopf zu stoßen. Das kannst du selbst als notorischer Kauz kaum wollen. Folglich muss ich für meinen inneren Frieden situativ erzwungener, wie leutselig gesuchter Nähe nach Möglichkeit vorausschauend aus dem Weg gehen. Für allzu aufregende An- und Abreisen habe ich immerhin ein Paar maximal schalldichte Kopfhörer angeschafft.

Selbstredend sei jedem Reisenden überlassen, sich für historisches Gemäuer im schirmgeführten Schwarm, für vielstimmigen Trubel an besenreinen Sandstränden, oder maßlose Buffets und Kampfsaufen in schwülen Partynächten zu begeistern. Ich gehe zum Lachen sicher nicht in den Keller, konnte aber weder mit dieser allgemeinverbindlichen Ausgelassenheit, noch mit stetig sengendem Sommersonnenschein je besonders viel anfangen. So mache ich mich längst nur noch aus dem heimatlichen Staub, wenn ich zuversichtlich sein kann, dem Urlaubsglück anderer schon angesichts klimatischer Wahrscheinlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Wenn meerblaue Träume von Sonne, Strand und Palmen allenfalls weit weg und äquatornah, in einem der landläufigen Herrenmenschenparadiese wahr werden. Gern unter der Gürtellinie und immer wieder auf dem Buckel wirtschaftlicher Ausbeutung.

Was für massentauglich befunden wird, landet über kurz oder lang in mundwässernden Prospekten. Das gilt hin wie her – und hier wie überall. Meine Wunschbilder laufen auf dem katalogisierten Reisemarkt nun mal ins Leere. So muss ich für deren Verwirklichung zwangsläufig selbst Sorge tragen. Konnte mir bei der Urlaubsplanung im letzten Herbst immerhin ausmalen, als Italienreisender vor Weihnachten weniger Konfektion als Kontemplation zu finden.

Was Apulien und Basilikata dem Reisenden im Dezember anbieten, sind erfreulich unaufgeräumte Strände, winterschläfrig vorweihnachtliche Dörfer und die morbide Magie untergegangener Kulturen – ohne unbestellte Einlage. Wenn ich mich, unter dunstig eingetrübtem Laternenlicht und allenfalls in Gesellschaft blätterner Tromben, ziel- und erwartungslos durch entvölkerte Altstadtgassen treiben lassen konnte, war mir das Glück genug. Was Erlebnisgeilheit tödlich langweilen muss, bedeutet mir seit jeher bedürfnisloses Einssein. Zudem die Absenz menschlicher Aufläufe häufig zutage bringt, was unter Geschrei und Gewese der Touristensommer regelmäßig zur Operettendeko verkommt. Bei einem dieser abendlichen Spaziergänge trat ich in Giovinazzo einmal unachtsam auf ein verschmähtes Echo aus der vergangenen Saison. Das hochschreckte und schlaftrunken etwas wie: „how lovely,“ „che bello,“ und „äfach schää“ quäkte, bevor es unwiderruflich im Orkus verschwand. Ich schwöre, stocknüchtern gewesen zu sein und versichere, dass es sich so und kein bisschen anders verhielt.

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