Wer sich schon sein halbes Leben mit mindestens zweieinhalb Dioptrien durch die Welt glotzt, hat wahrhaftig gelernt, mit marginalen Unschärfen zu leben. Deshalb brauche ich auf Erkundungen selten mehr als Kamera und Objektiv. Ein Freund schleppt regelmäßig fünfundzwanzig Kilo Ausrüstung samt Stativ auf seinem Buckel und durch die Landschaft. Um auf jeden Fall für jedes nur denkbare Motiv gerüstet zu sein. Ich habe nicht gezählt, wie oft die Wurst gegessen war, bis er seine gewünschte Aufnahmekonfiguration endlich aufgestellt hatte. Nicht selten hatte sich das perfekte Licht auf unabsehbare Zeit hinter einer Endloswolke verzogen. Auch der Reiher am Weiher hatte wohl Besseres vorgehabt, als eine gewissenhafte Vorbereitungsroutine zu würdigen. Oder sich kurzerhand französisch empfohlen, weil ihm der Umtrieb in seinem Revier ziemlich spanisch vorkam.
Während der gewissenhafte und akribische Ivica auf der steten Mission nach kompositorischer und technischer Perfektion ist, greife ich, meinem Naturell entsprechend, doch eher gierig nach der Gunst der Gelegenheit. Zweifellos haben beider Einstellungen das Potenzial, aneinander zu gewinnen. So knipst Ivica zwischendurch auch schon mal ohne Unbedingtheitsanspruch – und ich habe begriffen, dass es nicht schaden kann, ein wenig mehr Sorgfalt auf fundamentale Fotografierregeln zu verwenden.







Thema soll Intentional Camera Movement sein. Den Unterschied zu völlig vewackelten Misslichkeiten macht das Wörtchen „intentional“. Was eben nicht meint, hochmotiviert, aber ziemlich orientierungslos mit der Linse rumzuwedeln und darauf zu hoffen, dass dabei schon irgendwas rüberkommen wird. Ich selbst möchte Strukturen und Motive so darstellen, wie sie mir aus Wahrnehmung, Träumen oder Erinnerungssplittern vertraut sind.
Systematisches Experimentieren mit eher geschlossener Blende, längeren Belichtungszeiten (ab 1/10) und niedriger Lichtempfindlichkeit (<100 ISO) kann nicht von Schaden sein. An hellen, sonnigen Tagen wird’s ohne Graufilter (ND) allerdings kaum gehen. Dafür ist man mit einem solchen in den Einstellungen weniger eingeschränkt.






Je nach Belichtungszeit und Intensität der Kamerabewegung fließen Konturen und Farbverläufe mehr oder minder ineinander, werden also eher weicher – verschwimmen gewollt. Ein bisschen wie in der Aquarellmalerei. Perzeption trifft Phantasie. So entsteht aus jedem Bild ein unwiederholbares Unikat. Mehr noch als in der klassischen Fotografie kommst Du bei dieser Technik kaum ums Probieren und einiges an Fehlschüssen herum. Manche Motive wollen sich nicht mal eben im Vorbei mitnehmen lassen.





Grundsätzliches Merkmal dieser Fotografie ist auch Zufälligkeit, aber selbstverständlich sind die Ergebnisse beeinflussbar. Indem ich mich an vorgebene Linien halte, nehme ich dem Motiv schon mal nicht seinen Charakter. Einen Wald mit horiontalen Kamerabewegungen ins rechte Licht rücken zu wollen, wird womöglich nicht soviel bringen. Wohingegen das Wesentliche einer weiten Landschaft durch vertikale Bewegungen ziemlich verschwindet. Aber warum nicht gegen den Strich experimentieren? Realität ist schließlich auch nur subjektive Wahrnehmung.






Von Gebrauchsgegenständen, wie einem postgelben Briefkasten oder roten Mülleimer bleiben lediglich erwünschte Farbtupfer. Das angestrebte Ergebnis sollte bei dieser Methode, die eigene Sichtweise abzubilden, mindestens ansatzweise als mentale Skizze vorliegen, bevor du mit fein dosiertem Tattern zu Werke gehst. Kein Hexenwerk. Bei 20mm Brennweite bekommst du wahrscheinlich noch mit Parkinson im fortgeschrittenen Stadium ein brauchbares Ergebnis, während du deine Feinmotorik mit ’nem 400er Tele schon einigermaßen im Griff haben solltest. Sonst hast du nachher tatsächlich nur kunterbunten Matsch auf dem Monitor.










Ein wirklicher Zugewinn dieser Technik besteht darin, kaum an Wetter- oder Lichtverhältnisse gebunden zu sein. Keine Ausreden mehr, den heimischen Bau nicht täglich mindestens eine Stunde für einen Spaziergang zu verlassen. Akkus geladen, für ausreichend Speicherplatz gesorgt – und raus mit dir. Dafür brauchst du auch garantiert keine Kotbeutelchen. Bislang hat jedenfalls noch keine meiner Kameras je unziemlich mitten auf einen Gehweg gekackt.
Mannheim, im Januar 2024
