Das Leben ist nun mal lebensgefährlich

An Tagen wie Heiligabend greift die Verzweiflung besonders gern nach uns Schwermütern. Macht uns noch eher glauben als sonst, das Leben habe uns um dies oder das beschissen. Obwohl wir ihm so verdammt viel gegeben haben – womöglich sogar ein bisschen mehr. Wo andere ausgelassen feiern, erträgst du wieder einmal still. Dabei ist dein schütteres Selbstwertgefühl vielleicht nur an einer einzigen versemmelten Utopie zerschellt und in tausend Stücke zersprungen. Von der du freilich noch nicht mal ahnen kannst, ob dir ihre Erfüllung langfristig Lust oder Leid beschert hätte.

Wo Gefühle überschwappen, kriegt der Verstand schnell nasse Füße. So versauern wir lieber im Selbstmitleid, als auch der heftigsten Kränkung heilen zu helfen. Die verschorfte Verletzung, begraben unter verstreichender Alltäglichkeit, als Erfahrung abzuhaken. Einsicht zu gewinnen. Nun hat selbst manche Frohnatur den unseligen Hang, überzubewerten, was ihr das Schicksal vorenthält oder nimmt. Wie sie ohne weiteres geringschätzt, oder für selbstverständlich hält, was es ihr schenkt und bewahrt. Freigiebig – sicher. Aber subjektiv natürlich nicht immer angemessen.

Bei hartgesottenen Trauerklößen kann nicht einmal die Zeit diese hellrote Wunde im eigenen Leben schließen. Die mit dem stetig simmerndem Seelenschmerz immer auch jene weinerlich-wohlige Selbstgerechtigkeit aussuppt. Immer und wieder lassen sie sich – scheinbar wehrlos – an rostigen Ketten durch gefühlig verbrämte Momentaufnahmen schleifen. Statt sich ab und zu dran zu erinnern, wie erfrischend es war, beinahe jeden Tag auch ein bisschen Prinzessin sein zu dürfen.

Mancher mag im Glauben abtreten, ihm sei eben bestimmt gewesen, die meiste Zeit durch die Niederungen der eigenen Seele zu kriechen, als mal ein Thema abzuschließen. Selbstgeißelung und Nihilismus führen niemals zu Gedeihlichem. Sie verkleiden nicht mal gut.

Womöglich böten sich gerade solche Tage als Einstieg in einen persönlichen Paradigmenwechsel an. Eine Zeit, sich von überkommenen Fixierungen zu trennen. Von Schonhaltung und Lebensvermeidung zu lassen. Geschenke zu schätzen und anzunehmen, sich vielleicht sogar aufrichtig drüber freuen. Aufrecht Karussell zu fahren. Selbstgenügsam und ohne jede Bitterkeit, den Blick zuversichtlich nach vorn. Wie vordem. Als Kind.

Vom Junkfood zum Tröpfeldrama

Wie kann es angehen, dass die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ihrer Lieblingszielgruppe trotz Zwangsabgabe allvorabendlich unappetitliche Unterleibsthemen am Stück aufdrängen dürfen? In jeder Werbepause die nämliche Leier. Nervensägende Empfehlungen zur Vertuschung von Inkontinenz, der medikamentösen Abhilfe einer soliden Verstopfung oder infernalischer Flatulenzen. Anhand der bereitgestellten Statistik zu Beginn eines der unsäglichsten Spots soll dem Blasenschwächling vor der Mattscheibe wohl aufmunternd signalisiert werden, dass er mitnichten allein mit seinem urinösen Thema ist. Sondern offenbar jeder vierte deutsche Schwanzträger ab dem vierzigsten Lebensjahr gewahr sein muss, dass sein ganzer Stolz jederzeit unpassend und schmählich in Feinripps und Bollerbux entwässern könnte. Und wer möchte schon die tragische Figur abgeben, die für Statisten wie zufälliges Publikum kaum etwas als Mitleid, Fremdscham oder ein wieherndes Schenkelklopfen übrig lässt?

Dieser schludrig synchronisierte Aquarianer, aufgrund seiner inkohärenten Mundbewegungen unschwer als Faketeutone zu identifizieren, ist nach eigenem Bekunden von einer solchen Blasenschwäche befallen. Der gute Mann hat freilich vorgesorgt. Hinter der Frontbeule seiner Boxershorts schmiegen sich nämlich nicht nur Schniedel und Skrotum in schwitziger Zweisamkeit. Vielmehr stemmt sich daselbst eine zugefügte, Männerwindel gegen seine allfällige Leckage, wie der poröse Pieselpumpel verwirrend freimütig vorträgt. Der Dentalfriedhof könnte weiteres Indiz für einen allzu losen Umgang mit Reputation und Gesundheit sein. Noch habe ich freilich leicht beckmessern. Weder von unerwünschter Undichtigkeit geplagt, noch mit einer launischen Warenausgabe oder kariösen Futterluke geschlagen – und angesichts solcher Perspektiven durchaus nicht gewillt, mir dergleichen in diesem Leben noch zuzulegen. Obwohl Gesundheit unstreitig genetischen Dispositionen oder Umweltbedingungen unterworfen ist, so ist sie deswegen noch lange kein Selbstläufer. Eingeweichte Frühstücksbrötchen aus der Schnabeltasse lutschen und ein klammes Vlies am Gelerch – so weit solltest du es selbst mit einer kippeligen Selbstachtung bitte nie kommen lassen. Vor allem solltest du damit nicht vor einem Millionenpublikum hausieren gehen.

Die signifikante Zunahme Alter-Leute-Malaisen in mittleren Jahren ist auch Konsequenz einer Bequemlichkeit, die es offensichtlich vorzieht, sich Abführmittel einzupfeifen oder zu windeln, als beizeiten fürsorglich mit dem eigenen Körper umzugehen. Willenloses Suchtverhalten, Trägheit und ein zuviel an Fertigfutter machen auf Dauer nun mal chronisch krank. Insbesondere die Abkehr vom handwerklichen Kochen mit frischen Zutaten erweist sich zunehmend als folgenreich.

Auch Speisenzubereitung muss im Zeitalter des grenzenlosen Konsumismus hurtig und simpel abgetan sein. Wird doch die freud- und lieblos zusammengepanschte und geschmacksgepimpte Fabrikpampe sowieso meist achtlos reingeschippt. Nahrungszufuhr ist längst zur Nebensache verkommen. Zum angeregten Bröckchenaustausch – bei Banalität und Grundsatzdiskussion – zwischen Freund und Fremd. Zu einem halbherzigen Snack auf Heimweg und Faust – bevor der kleine Hunger zuschlägt. Süßsauer oder gepfeffert und versalzen auf der heimischen Sitzlandschaft – jedenfalls in verlässlicher Greifweite von Smartphone und Spielekonsole. Wer heute nicht pausenlos drei Tätigkeiten gleichzeitig gestemmt kriegt, gilt bei überzeugten Multitaskern ohnehin als hoffnungslos hängengeblieben. Hingegen dezenter Gaumenkitzel und unverdünnte Sinnenfreude zunehmend zu entbehrlichen Atavismen verkommen. Das chronisch irritierte Zentralnervensystem muss die fortgesetzten Zumutungen irgendwann beinahe zwangsläufig mit Meuterei quittieren. So verfettet der Gleichzeitler nicht nur häufig an solch zivilisatorischen Auswüchsen, er verblödet auf der ständigen Hatz nach immer mehr Effizienz auch erschreckend.

Dem einmal angefütterten Xenophobiker mag das längst integrierte Angebot hin und wieder gar zur Gretchenfrage geraten: „Nun sag, wie hast du’s mit dem Döner, Brauner?“ Mehr oder minder originäre Schnellimbisse und multinationale Franchises bieten ihren Konfektionsmampf mittlerweile alle paar Meter an. Die meisten ihrer Stammkunden sind Argumenten für eine zuträgliche Ernährung längst entwöhnt – oder nie zugänglich gewesen. In Abermillionen missachteter Kindheiten wurde und wird der Nachwuchs bequemlichkeitshalber mit industriell hochverarbeiteten Lebensmitteln und Fastfood abgespeist. Das mag Gen Y und Z insoweit entschuldigen, dass deren Gewohnheitsfrettchen ihre geschundenen Geschmacksknospen erst gar nicht entwickeln konnten. Oder ein bekömmliches Maß und Ziel irgendwo zwischen McFlurry und einem Bucket liegengelassen haben.

Dabei müsste selbst ein unverbesserlicher Pizzafreund für moderate Selbstfürsorge durchaus nicht von morgens bis abends Rohkost mümmeln. Wer aber kaum den Unterschied zwischen Discounterpizza und einem großherzig belegten Holzofenteigling schmeckt, ist gar nicht mehr so weit weg vom kulinarischen Anspruch einer Schmeißfliege. Der ein frisch ausgeschissenes Steak bekanntlich so recht ist, wie ein rohes oder gekonnt gebrutzeltes.

Komm mir bloß nicht wieder mit dem Surbel, eine augewogene Ernährung sei wesentlich eine Frage finanzieller Möglichkeiten. Sie ist vielmehr Konsequenz persönlicher Prioritäten und eines Einstehens für sich selbst. Die Entscheidung für Lebensmittel, die dieser Zuschreibung auch würdig und wert sind, ist in jeder Preisklasse problemlos möglich. Selbst für ein Meeresfrüchterisotto auf Gemüsebett zahlst du in einer gutgeführten Trattoria selten mehr als für zwei Schachteln Zigaretten. Und zu den Kosten einer selbstgemachten Gemüsesuppe mit Einlage kriegst du wahrscheinlich nicht mal ein Gramm Dope – oder ’ne trinkbare Pulle Fusel.

Um nachhaltige Kontrolle über das eigene Dasein zurückzugewinnen, solltest du allerdings mindestens imstande sein, den Zusammenhang zwischen einer labberigen Grundhaltung und dem Nicht-Scheißen-Können herzustellen.

Dezember in Apulien

Puglia – fuori stagione

Aufgrund traumatischer Erfahrungen wäge ich die Attraktivität potenzieller Wunschdestinationen heute wesentlich sorgfältiger gegen vorhersehbare Beförderungsprobleme ab, als in meinen Wanderjahren. In denen ich vorzugsweise mit dem eigenen Wagen spontan und frohgestimmt ins Blaue reiste – und jedenfalls ungleich unbekümmerter. Ich fahre heute nicht mehr besonders gern Auto, aber die Aussicht auf überfüllte Züge, aushöhlende Verspätungen, gnadenlos engbestuhlte und ausbuchte Flüge, wie insbesondere die aufgenötigte Teilhabe am indiskreten Lebenstheater melodramatisch veranlagter Zeitgenossen, treiben mir erst recht den Stressschweiß aus allen Poren. Schließlich ist menschliche Verletzlichkeit vierschrötiger Lebenswucht und rattengesichtiger Verschlagenheit in wenigen Lebenslagen vergleichbar ausgesetzt, wie bepackt und zielgerichtet. Die Vorstellung ungeniert rumgesprudelter Tröpfcheninfektionen befördert die Vorlust jetzt auch nicht so wirklich.

Piesackt hartgesottenere Naturen eigentlich nie die Frage, ob die saisonalen Völkerwanderungen eine persönliche Inaugenscheinnahme geweckten Fernwehs überhaupt noch wert sind? Wie wappnen sich andere gegen brunzdumme Chuzpe – wenigstens für ein paar Stunden? Mir ist durchaus bewusst, dass ein solch elementares Bedürfnis nach Abgrenzung immer wieder auch der Eventualität potentiell wertvollerer Begegnungen im Weg steht. Zumal allzuviel Eigenbrötelei immer Gefahr läuft, vor den Kopf zu stoßen. Das kannst du selbst als notorischer Kauz kaum wollen. Folglich muss ich für meinen inneren Frieden situativ erzwungener, wie leutselig gesuchter Nähe nach Möglichkeit vorausschauend aus dem Weg gehen. Für allzu aufregende An- und Abreisen habe ich immerhin ein Paar maximal schalldichte Kopfhörer angeschafft.

Selbstredend sei jedem Reisenden überlassen, sich für historisches Gemäuer im schirmgeführten Schwarm, für vielstimmigen Trubel an besenreinen Sandstränden, oder maßlose Buffets und Kampfsaufen in schwülen Partynächten zu begeistern. Ich gehe zum Lachen sicher nicht in den Keller, konnte aber weder mit dieser allgemeinverbindlichen Ausgelassenheit, noch mit stetig sengendem Sommersonnenschein je besonders viel anfangen. So mache ich mich längst nur noch aus dem heimatlichen Staub, wenn ich zuversichtlich sein kann, dem Urlaubsglück anderer schon angesichts klimatischer Wahrscheinlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Wenn meerblaue Träume von Sonne, Strand und Palmen allenfalls weit weg und äquatornah, in einem der landläufigen Herrenmenschenparadiese wahr werden. Gern unter der Gürtellinie und immer wieder auf dem Buckel wirtschaftlicher Ausbeutung.

Was für massentauglich befunden wird, landet über kurz oder lang in mundwässernden Prospekten. Das gilt hin wie her – und hier wie überall. Meine Wunschbilder laufen auf dem katalogisierten Reisemarkt nun mal ins Leere. So muss ich für deren Verwirklichung zwangsläufig selbst Sorge tragen. Konnte mir bei der Urlaubsplanung im letzten Herbst immerhin ausmalen, als Italienreisender vor Weihnachten weniger Konfektion als Kontemplation zu finden.

Was Apulien und Basilikata dem Reisenden im Dezember anbieten, sind erfreulich unaufgeräumte Strände, winterschläfrig vorweihnachtliche Dörfer und die morbide Magie untergegangener Kulturen – ohne unbestellte Einlage. Wenn ich mich, unter dunstig eingetrübtem Laternenlicht und allenfalls in Gesellschaft blätterner Tromben, ziel- und erwartungslos durch entvölkerte Altstadtgassen treiben lassen konnte, war mir das Glück genug. Was Erlebnisgeilheit tödlich langweilen muss, bedeutet mir seit jeher bedürfnisloses Einssein. Zudem die Absenz menschlicher Aufläufe häufig zutage bringt, was unter Geschrei und Gewese der Touristensommer regelmäßig zur Operettendeko verkommt. Bei einem dieser abendlichen Spaziergänge trat ich in Giovinazzo einmal unachtsam auf ein verschmähtes Echo aus der vergangenen Saison. Das hochschreckte und schlaftrunken etwas wie: „how lovely,“ „che bello,“ und „äfach schää“ quäkte, bevor es unwiderruflich im Orkus verschwand. Ich schwöre, stocknüchtern gewesen zu sein und versichere, dass es sich so und kein bisschen anders verhielt.

Noch ’n Fotokünstler

Marie hat einen Fotokurs für Fortgeschrittene geschenkt bekommen. An der Abendakademie, wo seit jeher ambitionierte Amateure, wie unverschämte Selbstdarsteller Fachkenntnis und Talent als Pädagogen beweisen dürfen. Du kannst tatsächlich nur auf dein Glück hoffen. Dieser Kollege gehörte zweifellos zur zweiten Kategorie. Arbeitete sich immer wieder abfällig an den „Billigscherben“ seiner Schüler ab, nicht ohne dabei ausdrücklich rauszuhängen, über welch formidablen Fuhrpark er selbst verfüge. Was der Mann ziemlich unverhohlen suchte, waren zahlende Bewunderer für seine eigenen Fotos. Die er entsprechend stolz und ausgiebig präsentierte. Vergaß auch nicht, die Philosophie seiner Fotografie lang- und breitzutreten. Vermittelte seinen Schülern nur eben das notwendigste an nützlichem Fotowissen – damit die Show nicht gar so ichbezogen rüberkam.

Selbstverständlich käme Nachsitzen bei den eigenen Fotos gar nicht in die Tüte. Wie Bildbearbeitung wirklichen Könnern generell verzichtbar sein sollte. Dümmer gehts wirklich nimmer – und verlogener auch nicht. Erzählen doch die Metadaten derartiger Hochglanzerzeugnisse regelmäßig davon, dass beinahe jeder dieser „Puristen“ nachbessert. Warum auch nicht? Aus welchem Grund sollten sensible Korrekturen ein ordentliches Foto entwerten? Wurden nicht schon zu Zeiten analoger Fotografie sämtliche Tricks ausgepackt, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen? Profis wedeln dunklere Bildbereiche seit jeher ab. Diese Möglichkeit blieb Hobbyfotografen ohne Dunkelkammer noch verschlossen. Mit dem Aufkommen der digitalen Fotografie und entsprechender Bearbeitungsmöglichkeiten gehört auch das gezielte „Aufhellen“ dunklerer – oder absaufender – Bildbereiche längst zur Routine ambitionierter Fotofreunde. Schließlich kann selbst edelste Optik Hell-Dunkel-Kontraste nicht ausgleichen wie das menschliche Auge.

Viele künstelnde Autodidakten scheinen von der eigenen Genialität nicht weniger überzeugt, als vom Stümpertum aller anderen. Glauben sich folglich berechtigt, verächtlich machen zu dürfen, worüber ein anderer gerade eben noch ganz glücklich war. Noch anstrengender als die schulmeisternde Penetranz solcher Fotofachbeurteiler sind meist nur noch ihre lackierten Lehrbuchfotos. Um das Attribut: „seelenloser Edelkitsch“ höflich zu vermeiden. Und Kunst? Was adelt Kunst als solche? Wird bereits Kunst, was das Kunstverständnis verstiegener Fachtrottel und ihrer Schranzen als solche verkaufen? Durchaus möglich. Ich jedenfalls empfinde als Kunst, was Stilempfinden und Gemüt gleichermaßen anspricht.

Prinzipien eines Grundschülers

Die Temperaturen dieses frühen Märztages erlauben selbst meiner Unverfrorenheit noch keine kurzen Ärmel. Wenige Schritte vor mir arbeitet ein vielleicht Acht-oder Neunjähriger Trottoirplatten ab. Meidet hüpfend jeden Spalt dazwischen. Wo eine lebendige Fantasie spielerisch drohende Abgründe überwindet und lebensrettende Inseln erreichen muss, nehmen Netzhaut und Realität des Erwachsenen nichts anderes wahr, als sandverfugtes Betonsteinpflaster und dessen ungesittete Vermüllung. Wenn überhaupt noch. Seine Jacke hat der Knabe unter die Tragriemen seines Schulranzes geklemmt.

Frierst Du gar nicht?“ störe ich seine Mission so naseweis wie altväterlich. Er überlegt nicht lange. Vergisst dabei keine Sekunde, auf einer Platte zu balancieren. „Eigentlich schon,“ klärt mich das Bürschlein schließlich selbstbewusst auf, „aber Montag, Dienstag und Mittwoch ist doch Sommer.“ „Ahsooo,“ dehne ich jäh entwaffnet und um Zeit zu gewinnen. Kucke vermutlich nicht eben geistreich aus der Wäsche. Hätt ich ja auch selber drauf kommen können. Füge folglich wenig schlagfertig und mehr zu mir selbst an: „da kann man wohl nichts machen“. Rufe ihm sogar ein hilfloses: „erkälte Dich bloß nicht,“ hinterher, während er in seinem Sommer davonhüpft. Von Klippe zu Klippe, über Canyons und Schluchten – und womöglich sogar ein wenig bibbernd.

Das Tier als Pläsier

Erinnerlich habe ich als Erwachsener lediglich einmal einen Zoo (von Weltgeltung) besucht und war einfach nur entsetzt. Ich habe auch nicht mehr die Spur einer Ahnung, was ich mir dabei dachte, vielleicht wollte ich meiner kleinen Tochter einfach eine unbedachte Freude machen. Ganz unerwartet drang an jenem Sommertag eine Art boshaft orchestrierter Weltgestank auf uns ein. Penetrant und schamlos. Als ob Savanne und Prärie nach nichts als Brunft und Scheiße stänken. In dieser Kulisse miefte selbst Spitzbergen verheerender als Tippelbruder im Schritt. Ich musste an Rilkes trauriges Gedicht vom eingesperrten Panther denken. Vor allem wurde es verdammt substanziell.

Befürworter der Zootierhaltung führen immer wieder treuherzig ins Feld, dass eingesperrte Tiere immerhin ausgewogenen Futters und ärztlicher Betreuung sicher sein können. Neue Wildfänge werden mit dem Argument gerechtfertigt, Inzucht zu vermeiden und aussterbende Wildtiere vor Wilderei zu schützen. Nö !!!
Wildtierhaltung wird nie was anderes als Tierquälerei sein.

Glaubt auch nur ein halbwegs gesunder Tierfreund, Gazelle oder Elefant zögen es vor, sich in nachgemodelten Naturräumen von 20 oder 30 Ar von gesottenen Gaffern beglotzen zu lassen, statt mit allen Risiken leben zu dürfen, wie es die Natur für ihre Art vorsieht? Was genau bringen einem eingesperrten Panda glückliche Kinderaugen? Wozu braucht es in Zeiten von 4k TV noch immer Tierschauen, wenn man Wildtieren in liebevoll gemachten Dokumentationen über ihre eigenen Habitate so nahe kommen kann? Sind Investitionen in geschützte Nationalparks nicht ungleich zielführender, als das Festhalten an einer kolonialistischen Unart?

Tatsächlich geht es auch nicht die Bohne um Artenschutz, sondern um menschliche Zerstreuung. Um Millionensubventionen, möglichst viele zahlende Besucher und ein paar tausend, mehr oder minder einträgliche, Jobs. Seit jeher ist Mensch der festen Überzeugung, beliebig über alle anderen Lebewesen verfügen zu dürfen. Als Haustiere, Nutztiere, Trophäenlieferanten und solche zum Bestaunen. Verwertungspotential praktisch unendlich – und diese Ausbeutungsroutine wird mehrheitlich noch immer kaum hinterfragt. So können sich deren Profiteure weiterhin zu Dreistigkeiten wie jene versteigen, Tiergärten seien wunderbare Archen der Neuzeit.

Ein Polarbär pfeift aber nun mal auf Gesellschaft. Diese Prädatoren haben so gar keinen Spaß dran, bei 30 Grad mit Homies unter schattigen Bäumen abzuhängen. Vielmehr sehen männliche Eisbären Ihren Lebenszweck eher darin, wochenlang und mutterseelenallein in Eiswüsten Strecke zu machen und sich höchstens mal mit ’ner läufigen Eisbärin für ’ne schnelle Nummer zusammenzutun. Wenn diese Gehege überhaupt je ernsthaft als Archen gedacht waren, hat man eine artgerechte Umsetzung für die meisten Tierarten jedenfalls gründlich vergeigt. Und wer Beton weiß anpinselt, um eine Winterlandschaft vorzugaukeln, ist wahrhaftig ein Fall für die Geschlossene. Projektionsflächen und Publikumsmagneten wie der unglückselig knuffige Kuschelbär Knut verhelfen ihren Tierknästen zu Prestige und sprudelnden Einnahmen für Vermarktung und Merchandising. Das ist schon das Ganze.

Der damalige Bundesumweltminister Gabriel, der selbst unter Seinesgleichen berüchtigt dafür war, den Ministerschwelles zwanghaft vor jede erreichbare Kamera schieben zu müssen, konnte prompt nicht widerstehen und nutzte das allgemeine Entzücken für eine Charmeoffensive in eigener Sache. Immerhin löste seinerzeit jeder Eisbärfurz ein mittleres Medienbeben aus und wurde volksgemeinschaftlich mit ganz viel Glücklichsein goutiert.

Der Knut-Hype bot endlich die angemessene Plattform, das eigene Banalitätspotenzial voll auszuschöpfen. Gabriel konnte sich unmöglich entgehen lassen, das kleine Kerlchen vor fünfhundert angereisten Journalisten und einer weltweiten Bärenfangemeinde persönlich zu präsentieren. Schmerpetzi und sein Knuddelbärchen – unvergessliche Bilder für die Ewigkeit. Der Herr Minister greift recht tief in seine Phrasenkiste, diktiert einen klebrigen Schmus von dräuendem Klimawandel und Königen der Kälte in die Hundertschaft der bereitgestellten Mikrofone – hoffnungslos kitschvernarrt und sichtlich blind für jene aberwitzige Wildtierwohlfühloase. Versichert Knut immerwährenden ministeriellen Beistands und einer lebenslänglichen Patenschaft. Bläht wie von ungefähr die eigene Eminenz an großen Plänen seines Ministeriums. Mit Knut als Naturbotschafter undsoweiter. Durchaus vorstellbar, dass das ministerliche Freßzentrum währenddessen pausenlos Eisbärtatzenrezepte funkte.

Beim Fototermin mit dem Fellmoppel plusterte sich der Blob dann derart, dass einem tatsächlich angst und bang werden konnte. Und inständig hoffte, er möge nicht ausgerechnet in diesem Moment vor Stolz über seine just entdeckte Tierliebe platzen. Unter hundertvierzig Kilo ministerialem Schmodder begraben zu werden, wäre sicher auch für einen neugierigen kleinen Eisbären kein Spaß gewesen. Alles ging gut, aber besser wurde nie was. Außer instinktfreier Rhetorik und einer anbiedernden Symbolpolitik hat diese Nervensäge auch späterhin nicht viel gekonnt.

Mit dieser affektiven Eisbärbabyhysterie haben einige ihren Schnitt gemacht. Nur unser Knastbruder Knut war angeschissen. Hatte zeitlebens nichts von seiner frühen Rolle als Kindchenschema einer ganzen Nation. Durfte sich nie nach Lust und Laune in seinem natürlichen Element wälzen, oder eine verträumte Robbe nach Eisbärenart zerfetzen. Ahnte nicht mal was von endlos einsamen Märschen und anderen Freuden der Freiheit. Lebenslänglich währte für ihn gerade mal vier Jahre und ein paar Monate. Jahre nach seinem schimpflichen Ableben wurde in seinem Hirngewebe der Erreger einer Form von Enzephalitis identifiziert, die bis dahin nur bei Menschen bekannt war. Das Leben kann verdammt süffisant sein.

Eines Märztages hatte der halbstarke Knut jäh die Eisbäraugen verdreht und war vor seinem entsetzten Publikum in den betonierten Wassergraben gekippt. Dümpelte noch eine kleine Weile wie unentschlossen zwischen ein paar kleinen Wellen, kieloben und zwischen Paralyse und Tod, bevor er hilflos auf Grund ging und ertrank. Dieses Trauma hätte der undankbare Fellsack seinen kleinen Besuchern nun wirklich ersparen können. Und weil auch Selbstverstümmelung, Stereotypien und trübsinnige Zootiere ganz schlecht fürs Geschäft sind, werden Macken gern präventiv mit Psychopharmaka weggeballert. Kein Mensch will eine Menagerie der abgekauten Gliedmaßen besichtigen. Stellt sich angesichts dessen nicht zwangsläufig die Frage, was ein dauersedierter Panther mit seinem wildlebenden Pendant noch gemein hat, als die Anmutung einer Raubkatze?

War es überhaupt jemals legitim, majestätische Kreaturen ihres Willens, ihrer Lebensweise und natürlichen Instinkte zu entwöhnen, um deren Popanze in unsere Schaufenster stellen zu können?

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Wackelbilder

Intentional Camera Movement

… ist nur ein Etikett für eine fotografische Spielart, deren Ursprünge wahrscheinlich so alt sind, wie die Fotografie selbst. Wir alle haben uns schon über verwackelte Bilder geärgert. Und gehen nicht ausgerechnet immer jene Aufnahmen in die Hose, die du dir als Erinnerung schön scharf erhofft hattest? Wohlan, mein Freund. Warum Deinen Tremor nicht mal zur Tugend machen?

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Venedig macht glücklich

Am Vorabend meines siebten Geburtstags wünschte ich mir vor dem Einschlafen nichts sehnlicher, als Schnee für meinen Tag. Als am nächsten Morgen die ersten gedämpften Straßengeräusche an meine Ohren drangen, wusste ich im gleichen Moment und auch ohne aus dem Fenster zu sehen, dass mein Wunsch auf wunderbare Weise erfüllt war.

Irgendwann – und ein paar Einsichten später – beschloss ich, auch Venedig nur noch im Winter zu besuchen. Nicht, dass ich darauf hoffte, die Lagunenstadt einmal unter einem kalten Leintuch zu erleben. Schnee ist mir nicht mehr wichtig, aber Wunschlosigkeit bewahrt weitgehend vor Enttäuschungen. Ich fahre also einfach hin und lasse auf mich zukommen. Habe lediglich eingepreist, dass es eher wenig Sinn macht, der Poesie der Kanäle, Plätze und Gässchen in einem endlosen Menschenschwarm nachspüren zu wollen. Zu Ferienzeiten verkommt der Zauber vollends zum Rummel.

Mein Venedig ist so. Noch bevor ich die Augen aufschlage, weiß ich, dass es regnet. Ahne, wie es sich sanft und auf beschlagene Scheiben setzt und perlend seinen Weg sucht. Lausche dem Zerplatzen unzähliger Tropfen auf meinem Fensterbrett. Der vielstimmigen Wassermusik zinkener und kupferner Traufen. Nicht einmal habe ich mich in dieser Stadt über einen verregneten Tag geärgert. Warum auch? Lässt direktes Licht nicht jede Diva alt aussehen?

Der Vormittag ließe sich prächtig hinter der Glasfront eines Cafés vertrödeln. Wider alle Vernunft wäre vielleicht doch eine Gesetzmäßigkeit hinter der Abfolge der Böen erkennbar, die in Abständen die Lagune aufpeitschen und Schaumfetzen gegen das Fensterglas gischten. Vergiss es. Nicht alles unterwirft sich dem menschlichen Begehr nach Einordnung. Wie wäre es, Vaporetti und Lastkähnen einmal erwartungslos hinterherzuträumen, um Abstand zum Selbstanspruch zu gewinnen? Einen anerkennenden Pfiff für die Eleganz einer hochglanzgewienerten Serenella übrig zu haben? Im hypnotischen Ab und Auf lose vertäuter Gondeln alle Kontrolle abzustreifen und ermüdende Lebenswut gegen Bedürfnislosigkeit einzutauschen?

Schon am frühen Nachmittag treibt es mich wieder hinaus in die Gässchen von Castello oder Cannaregio. Bewehrt mit Schirm und Kamera. Vielleicht unterbreche ich eine Überfahrt nach Murano auf der Friedhofsinsel San Michele. Hinter rostrotem Backstein erwartet den Besucher eine stille Welt, in der nach Jahreszeit und Witterung das Konzert der Zikaden, Vogelgezwitscher, oder der Wind in den Zypressen die Hintergrundmusik machen. Ich weiß es, weil ich seit Jahrzehnten zurückkomme. An Tagen wie diesen trommelt es freilich nur nachdrücklich auf den Regenschirm.

Obgleich omnipräsent, stolpert man auf diesem Friedhof eher zufällig über Grabsteine mit weltbekannten Namen. Welche gedankenlos oder unwissend zwischen liebevoll gepflegtes Familiengedenken und verwitterte Namenlosigkeit verstreut zu sein scheinen. Weit gefehlt. Auf San Michele bleiben die einst Gefeierten und Privilegierten absichtsvoll nicht unter ihresgleichen. Lage ihrer Ruhestätte bestimmen ausschließlich Todeszeitpunkt und Konfession. Indessen lassen auch aufwändige Gestaltung, Dimension und Pflegezustand steingewordener Pietät keineswegs zwingend auf einstige monetäre Potenz oder Prominenz ihrer Einlieger rückschließen. Häufiger mag der hilflose Versuch hinter jenem Übermaß stecken, die Unbegreiflichkeit eines finalen Verlusts irgendwie zu verarbeiten. Ein Jammer, dass sich Verzweiflung nicht mal unter solidem Marmor begraben lässt.

Wie verstörend vertraut Glück und Leid immer wieder beieinander liegen. Noch vorgestern als Odette oder Odile schwerelos über die Bühne geschwebt, wird man deinen biegsamen Leib vielleicht schon übermorgen entseelt, leichenstarr und rührend rausgeputzt inmitten Fassungslosigkeit, hilflosem Pathos und weißer Calla ausstellen. Ein stolzer Schwan, der in dieser Welt nie wieder schweben wird. Am Abend setze ich in „meinem Quartiere“ ein paar Reflexionen in Szene. Nach Motiven musst du in Venedig kaum suchen.

An einem klaren Tag zieht es mich womöglich weiter in die Lagune hinaus. Torcello, Mazzorbo oder Burano sind eine gute halbe Bootsstunde von der Fondamente Nove entfernt. An wolkenlosen Wintertagen leuchten die Farben der Fischerhäuser immer besonders. Am Rand eines geschäftigen Platzes finde ich eine Bank und suche so zu gucken, als gehöre ich selbstverständlich zum ansässigen Alltag.

Die Insulaner übergehen meine einfältige Mimikry vermutlich gedankenlos. Die paar Chinesen sind mit Schnütchenschieben und Selfies am Stiel ausgelastet. Offensichtlich ist an diesem Tag jeder bei- und mit sich. Freiräume bleiben grenzenlos. Also wende ich mich endlich dem zu, was geschäftige Marktleute auf Empfehlung und Ansage eingepackt haben. Der halben Dauerwurst und einem milden Asagio. Dem großzügig bemessenen Stück Guanciale – warum nicht? Oliven und gefüllte Weinblätter gehen auch immer. Eine krossgebackene Ciabatta sowieso. Wasser – kein Wein. Alkohol macht mich nur noch rührseliger oder mal richtig wirr.

Augenblicke wunschlosen Erlebens, entkoppelt von Rückblenden und Antizipation. Der perfekte Moment die eigene Rastlosigkeit einmal einzustellen – eigentlich. Gleichwohl so unwirklich, gerade jetzt an diesem gesegneten Fleckchen ausruhen zu dürfen – und sich nicht sehnsuchtsvoll hierher träumen zu müssen.

Unsere gnadenlose Toleranz

Vor etwa vier Jahren habe ich meine Gedanken zum Rassismus aufgeschrieben. Aus gegebenem Anlass möchte ich diese noch einmal auszugsweise in meinem Blog veröffentlichen. Denn wieder einmal ringt Politik um Fassung, als kämen auch diese Jubelfeiern in Neukölln und ähnlichen Brennpunkten aus dem Nichts. Angesichts solcher Bilder fragt sich doch gesunder Anstand unwillkürlich, wie bewunderungswürdig Freiheitskämpfer sein können, die Raketenbasen unter Wohnhäusern ihrer eigenen Familien aufstellen?

Wie sehr muss eine Ideologie von Kalkül und Menschenhass zerfressen sein, die militärische Infrastruktur unter Krankenhäusern oder Schulen plant? Die es vorzieht, die eigene Heimat hallenhoch und kilometerweit zu untertunneln, statt Abermillionen Euro humanitärer Hilfe des Palästinenserhilfswerks für ein lebenswerteres Leben ihrer oft bitterarmen Menschen auszugeben? Nicht sehr verwunderlich, wenn man gelernt hat, dass UNRWA-Mitarbeiter nicht eben selten gleichzeitig der Hamas angehören. Der richtige Mann denkt nun mal an sich zuerst. Mehr als die Hälfte aller Palästinenser im extrem dichtbesiedelten Gazastreifen sind mangels eigener Ressourcen gar nicht in der Lage, sich wirtschaftlich selbst fortzubringen.

Was soll denn so heldenhaft daran sein, sich hinter Kopftüchern und Kindern zu verkriechen, um die Wut der islamischen Welt gegen jene zu schüren, die Terroristenverstecke und Abschussrampen zum Selbstschutz ausschalten müssen? Und dass Bibi nicht gern Gefangene macht, ist doch kein Geheimnis. Die Leben von Frauen und Kindern sind einem Nethanjahu vermutlich ebenso wurscht wie der Hamas. Zudem kämpft der zionistische Hardliner seit Jahrzehnten mit allen Mitteln um seine politische Immunität und gegen den drohenden Knast. Ich würde nichts dagegen wetten, dass ihm dieser Überfall womöglich ganz gelegen kam – ohne mich am üblichen Geraune beteiligen zu wollen. Seine nationalen und ultrareligiösen Koalitionspartner werden ihn jedenfalls jetzt noch mehr vor sich her treiben. Zweifellos hat die Hamas all diese Parameter kalkuliert. Es war zu erwarten, dass israelische Bodentruppen erstmal nicht in dieses Gassengewirr reingehen, um möglichst ausschließlich Hamaskämpfer zu eliminieren. Welcher Militärstratege würde seine eigenen Truppen in einem reinen Häuserkampf auf gegnerischem Territorium verheizen?

Feiglinge fordern besonders gern Fingerspitzengefühl von denen ein, die sie selbst mit Schlagringen und Nagelschuhen traktieren. Gehört doch Wehleidigkeit zur Grundausstattung dieser Spezies. Eines sollte man sich immer wieder klarmachen: Die Hamas sucht keine Koexistenz, sie ist einzig auf die vollständige Auslöschung Israels und seiner Menschen aus. Und es ist dieses, allein auf unbewaffnete Zivilisten abzielende Pogrom, das der Logik der israelischen Regierung eine Reaktion nachgerade aufzwingt. Wer wollte angesichts einer solchen Teufelei entscheiden, welche Antwort angemessen ist? Der Mossad wäre logistisch zweifellos in der Lage, die Kommandoebene in ihren (vermeintlich) sicheren und sicherlich komfortablen Exilen einigermaßen „chirurgisch zu neutralisieren“. Bekanntlich gab der israelische Geheimdienst schon in der Vergangenheit immer wieder einen Dreck auf die ungeschriebene Herrscherregel, ausschließlich Erfüllungsgehilfen und Subalterne aufeinander zu hetzen, während man Seinesgleichen davonkommen lässt. Wenn man schon glaubt, aus Staatsräson alttestamentarisch abrechnen zu müssen, ist eine solch gezielte Enthauptung sicherlich die weniger unanständige Wahl der Mittel.

Eine umfassendere Vergeltung kann ohne tausende Opfer nicht abgehen. Selbst ein (noch so) gezieltes Bombardement muss zwangsläufig auch jene töten und verletzen, die gezwungen zu leben sind, wo immer sich diese Bestien verkriechen. Gerechtigkeit wird auch auf diese Weise jedenfalls niemandem widerfahren. Fatal, wenn man als palästinensisches Kind angesichts einer vorhersehbar knüppelharten israelischen Reaktion auf Maulhelden und Menschenverächter als „Beschützer“ angewiesen ist.

Die Hamas wird wohl jede Reaktion überstehen. Eine Geisteshaltung kannst du so wenig plattmachen wie eine Hydra – auf jeden abgeschlagenen Kopf wachsen bekanntlich zwei neue nach. Die Anführer dieser Bande nehmen die Toten und Verletzten ihrer eigenen Bevölkerung nicht nur regelmäßig in Kauf. Vielmehr dienen sie ihrer einträglichen Erzählung vom gewollten Genozid am palästinensischen Volk. Man hebt berechnend das Beinchen, um den genervten Tritt empört zu instrumentalisieren. Das Prinzip kannst du auf jedem Schulhof beobachten.

Apropos Schule. Palästinensische Schulbücher vermitteln den Kindern eine gänzlich andere Geschichte als die, die mitleidheischend dem Westen verkauft wird. So kann es kaum verwundern, dass Berufswunsch vieler Jungen im Gazastreifen tatsächlich Märtyrer ist, mindestens aber Gotteskrieger. Die Waffenausbildung beginnt häufig schon im Kindesalter. Auch Terroristen sind schließlich eine nachwachsende Ressource, wenn man den Nachwuchs beizeiten abrichtet. Die Begriffsstutzigen kann man immer noch mit einem Sprengstoffgürtel losschicken.

Was für palästinensische Menschen seit der Nakba entsetzliches Leid bedeutet, nutzt dem Geschäftsmodell Hamas. Das schlechte Weltgewissen und eine damit einhergehende Hilfsbereitschaft sind kalkulierbare Konstanten. Wer will die Geldflüsse nachvollziehen, wer die Wege der Hilfsgüter und Lebensmittel, wenn deren Verteilung der Willkür einer einzigen Organisation unterliegt? Und wenn schon. Schließlich gehört das Opfernarrativ so fundamental zur islamistischen Märchenwelt, wie der alberne Märtyrerkult. Ein selbstgefällig zur Schau getragener Glaube gibt nicht nur vor, Berge zu versetzen, er vernebelt vor allem die verbindende Seelenödnis ganz vorzüglich. Darin nehmen sich Dschihadisten, Kreuzfahrer und Conquistadoren gar nichts. Ein verschlissenes Bezugssystem aus Absolutheitsanspruch, bedeutungsvollen Ritualen, haltlosen Versprechungen und eine abstruse Gedankenwelt genügt offensichtlich auch im dritten Jahrtausend locker, für seine diesseitigen Exzesse eine fette Belohnung in einem fantasierten Jenseits zu beanspruchen. Stellt sich da nicht die Frage, was dem Anständigen an einem Himmel gelegen sein könnte, in dem solchen Kores ein Logenplatz auf Gottes Schoß erwartet?

Am 7. Oktober 2023 konnte eine vernetzte Menschheit verfolgen, wie derlei Heldenstücke selbsternannter Gotteskrieger ablaufen. Da war nichts geschickt geschnitten oder tendenziös aufbereitet, auch kam keine KI zum Einsatz. Die sichtlich stolzen Streiter filmten ihre eigene Bestialität mit Bodycams. Nicht wenige hatten sich für ihren Ehrentag aufgemaschelt wie Turtle Ninjas. Blökten und juchzten den Namen ihres Allmächtigen, während sie in den frühen Morgenstunden schlaftrunkene jüdische Siedler und feiernde Raver überfielen, vergewaltigten und abschlachteten. Einge übertrugen das Gemetzel live in soziale Netzwerke. So erhielten zahlreiche Bewohner aus dem nahen Gaza zeitnah Gelegenheit, die bereits geschändeten und verstümmelten Leichen auf dem Festivalgelände nochmal nach Wertsachen zu fleddern.

Eigentlich unvorstellbar, dass sich irgendwer als Fanboy- oder girl solcher Sadisten outen möchte. Eigentlich. Schau dir die Freudentänze an, sieh in die Gesichter der Glücksbesoffenen, hör bei ihrem Triumphgeheul hin. Was diesen Affentanz antreibt, sind nichts als Schadenfreude und Hassbefriedigung. Wer solche Menschenverachtung nimmermüde zu unreifen Ausrutschern verharmlost, hat mindestens von den Mechanismen der Manipulation gar nichts begriffen. Im Krakeel dieser Fanatiker beweist sich abermals die Gesinnung einer Gesellschaft, deren Einpeitscher ein vitales Interesse daran haben, bereits die Jüngsten in einen Käfig kompromissloser Glaubenshörigkeit zu zwingen. Die diesen das erwünschte Herrenmenschendenken vom Kleinkindalter an eintrichtert. Wodurch sich insbesondere bei den Einfältigeren der Glaube an einen Minderwert aller „Ungläubigen“ – und unversöhnlicherJudenhass – fast zwangsläufig festsetzen muss. Bevor du das nächste mal zur unreflektierten Verständnishaberei für solche Schreihälse ansetzt, geh in dich: Hast du auf Europas Straßen je auch nur einen einzigen Zionisten feiern sehen, weil Palästinenser sterben?

Verbundenheit mit dem palästinensischen Volk und Anteilnahme, insbesondere mit den ausgesetzen Opfern im Gazastreifen, sind das eine. Welcher empfindende Mensch wird angesichts deren Leids nicht weniger mit diesen Wehrlosen fühlen? Ich begreife nur nicht, was es da aufzurechnen gibt? Was Täter, Bewunderer und all jene willfährigen Relativierer und Bilanzierer verbindet, die ihre scheinheilige Menschlichkeit gern mit einem mechanischen „Aber“ demaskieren und pervertieren, marschiert durchaus geschlossen in die gleiche Richtung. Schon im Verständnis für solche Scharfmacher offenbart sich eine trostlos ethische Leere, die im Grunde auch nur zur mitleidlosem Instumentalisierung aller Leidtragenden beizutragen hat. Anstatt endlich die rottigen Elfenbeintürme zu schleifen – oder wenigstens ab und zu mal die vorlaute Bessermenschenfresse zu halten, hagelt es einmal mehr kritiklose Solidaritätsbekundungen von durchgeschmorten Kleinbürgern. Die ihr vorgebliches Linkssein in erster Linie pflegen, um es bei solchen Gelegenheiten wie eine Toleranzmonstranz vor sich hertragen zu dürfen. Ist denn so schwer zu kapieren, dass bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit jede Gegenrechnung zum blanken Zynismus verkommen muss – gleichgültig, welcher Herkunft Täter oder Opfer sind?

Die Häme angesichts gezielt abgeschlachteter, geschändeter und verschleppter Menschen macht mich unendlich traurig. Und stinkesauer. Weil viele dieser tanzenden Schreihälse selbst auf die Humanität anderer angewiesen sind – diese als selbstverständlich voraussetzen – und voraussetzen können.

Immerhin herrscht im Bundestag, zumindest im ersten Entsetzen, seltene Einmütigkeit in der Verurteilung des Massakers. Angesichts dieser Geschlossenheit sind alle Parteien gefragt, womöglich auch grundgesetzliche Änderungen zügig in Angriff zu nehmen. Einen Rechtsrahmen zu schaffen, der es Gerichten ermöglicht, Rassismus und Antisemitismus künftig exemplarisch zu bestrafen, statt menschenfeindlichste Positionen mit Hinweis auf mangelnde Handhabe auch weiterhin bedauernd durchzuwinken. Die derzeitige Regierung sollte die Chance dieses breiten Konsenses nutzen, bevor die Blauen auch aus diesem Thema wieder einmal Kapital schinden. Ich bin allerdings nicht sehr zuversichtlich, dass sich im Bundestag außer ’ner Menge heißer Luft diesmal etwas bewegt. Die Ränder werden, schon ihrer Basis zuliebe, als erste lavieren und relativieren. Man wird sehen.

Hier der Auszug aus 2019:

Jüdische Mitbürger denken angesichts einer unrund eiernden Willkommenskultur ernsthaft darüber nach, endgültig aus Europa auszuwandern. Wäre ich seit Jahrhunderten latentes Feindbild für die ganze unheilige Bagage, würde ich allerdings auch sehen, dass ich Land gewänne, bevor die Scheiterhaufen wieder lodern. Wer freilich ausschließlich den bekannt rechten Judenhass anprangert, überhört die Schüsse aus anderen Ecken womöglich vorsätzlich.

Judenfeindliche Tiraden und antisemitische Narrative nehmen nicht nur bei Al-Quds Märschen Fahrt auf. Die Täter-Opfer-Umkehr läuft im postfaktischen Zeitalter besser als je. Beim Krieg der Bilder sind momentan die Gotteskrieger vorn. Da werden aus israelischen Kindern Unmenschen und aus Kinderschlächtern heldenhafte Befreiungskämpfer. Natürlich sind auch die autonomen Psychobratzen nie weit, wenn platte Hetze und Randale angesagt sind. Dazu passt dieser Kalauer: Wie bringt man einen Linken dazu, freiwillig rechte Parolen zu gröhlen? Man lässt ihn auf einer Palästinenserdemo mitlaufen.

Da ist, dank völkerübergreifender Wahnvorstellungen, längst zusammengewachsen, was zusammen gehört. Gemeinsame Feindbilder scheinen überhaupt erstklassige Integrationsbeschleuniger, möchte man höhnisch anzufügen. Obwohl bei diesen Deutsch-Arabischen Idiotentreffen immer ungenierter Vernichtungsphantasien skandiert werden, belässt es Politik weitgehend bei Maßhalteappellen und Standpauken. Menschenhassern schleudern wir trotzig die teutonischste aller neuen Volkstugenden entgegen, unsere unbeugsame Toleranz. Betulichkeit und Geduld werden früher oder später noch jeden Fundamentalisten weichkochen.

Echt jetzt? Was stimmt nicht mit uns? Kapitale Lernresistenz? Barmherzige Amnesie? Blanke Idiotie? Weshalb reagiert der Rechtsstaat ausgerechnet beim Schutz der jüdischen Minderheit immer wieder zu fahrlässig? Einer Minderheit, die dieses Schutzes in unserem Land schon traditionell konsequenter bedarf, als jede andere. Sind Exekutive und Judikative bereits gar nicht mehr in der Lage, Rechtsstaatlichkeit konsequent durchzusetzen? Wer bedarf verbohrter Interpreten der Fronten in Palästina, wer will deren Profiteure wie BDS oder Samidoun auf seinen Straßen? Wer braucht das? Na WIR! Wir saugen schließlich alles auf. Weil wir so entsetzlich weltoffen sein müssen. Beflissen bis zur Selbstaufgabe – zumindest, bis das deutsche Fass wieder mal überläuft. Einstweilen sind wir vor allem eins: gnadenlos tolerant und aufgeschlossen – selbst gegenüber Hardcore-Rassisten aus Parallelgesellschaften.

Alles, was bei parlamentarischen Sondersitzungen, meist aus traurigem Anlass, zum Thema Verbot oder Betätigungsverbot regelmäßig und erwartbar kommt, sind Absichtserklärungen: „Wir müssen“, „wir wollen“, „wir werden“. Wohlfeile Solidaritätsadressen an die Leidtragenden, triefende Betroffenheit – fraktionsübergreifend. Zwei, drei Stunden schlechtes Emotionstheater, bevor das Glöckchen zum parlamentarischen Alltag drängt. Nur nichts über’s Knie brechen. Mit Augenmaß an das Problem herangehen. Könnten solche Verbote doch leicht als „Religionsrassismus“ oder „antimuslimische Ressentiments“ ausgelegt werden. In diese Ecke gehört niemand gerne. Man ist dieser unreflektierten Appeasements und folgenlosen Sprechblasen so überdrüssig.

Quer – oder vielleicht doch nur ein wenig schräg?

Historische Karikatur zur Pockenschutzimpfung mit Kuhpocken um 1800

Was ist eigentlich gegenwärtig bei den Querdenkern geboten? Auch wenn sich die vorlautesten Schreihälse wohl insgeheim in der Tradition gestandener Freiheitskämpfer sehen mögen, versteht man sich nach eigenem Bekunden doch lediglich als besorgte Bürger. Warum auch nicht? Die meisten kommen ganz gut damit klar, sich selbst niemals infrage zu stellen.

Jedenfalls hat der beherzte Widerstand Vorbilder. Haben sich die militanten Gurtmuffel nicht ähnlich ins Zeug gelegt? Seinerzeit erboste sich Wutbürger gegen die gesetzliche Gängelei, bei einem heftigen Aufprall nicht mehr mit dem eigenen Dickschädel durch die Frontscheibe zu dürfen. Auch schon wieder ein paar Tage her. Anzunehmen, dass sich selbst der renitenteste Verweigerer von damals mittlerweile so selbstverständlich angurtet, wie kein Mensch von Anstand noch in die Gosse scheißt. Nur so am Rande: Man tut auch dem eigenen Seelenfrieden keinen Gefallen, hinter jeder politischen Maßnahme Willkür zu wittern.

Von außen werden die seltsamen Prozessionen häufig als beunruhigend wahrgenommen. Fahren doch bei dergleichen naturgemäß auch solche Trittbrett, die von Freiheit ganz eigene Vorstellungen mitbringen. Schon von daher lassen sich frustrierte Querulanten wie nützliche Idioten in Rundumschlägen immer wieder wohlfeil als potentielle Umstürzler verkaufen.

Nö !

Wie hoch will Politik den nervigen Krakeel denn noch hängen? Nicht anders führen sich doch zweijährige Trotzköpfe auf. Geben auf dem klebrigen Fliesenboden vor der Supermarktkasse brüllend und strampelnd den Brummkreisel, weil Vati aus purer Niedertracht kein Überraschungsei kaufen will. Infantile Ichbezogenheit diktiert Aktion – Konsequenzen überschaubar. Schlimmstenfalls fängt man sich mal einen genervten Klaps ein. Danach brüllt sich’s gleich noch empörter. Und dreckige Klamotten sind dann doch eher Mamis Problem …

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Die Liebe, das Leben – und der Tod

Hin und wieder erlaubt sich eine übermütige Liebe, just jene stürmisch anzurempeln, die ihr doch lebenserfahren aus dem Weg gehen wollten
Das Leben schenkt sich uns, was wir aus diesem Geschenk machen, ist nicht mehr seine Angelegenheit
Und der Tod findet schon gar keine Zeit, mit den Sterbenden zu trauern. Weshalb sollte er sich auch mit Sentimentalitäten beschweren?
Der Gevatter tut nur, was ihm aufgegeben ist – und nicht eines seiner Mandate duldet Aufschub

Dein Kampf

„Als geborener Rebell kann ich gar nicht anders. Ich muss einfach die Welt verändern“. Oha! Da bohrst Du aber mal an einem gewaltig dicken Brett, mein Lieber. Steckst Dir ein wahrhaft erhabenes Ziel, um nicht zu sagen: Verdammt unrealistisch. „Natürlich wird das nicht von heute auf morgen gelingen, aber dafür kämpfe ich, bis ich sterbe“. Was soll ich darauf antworten? Was will man an Verwertbaren aus ’ner Sprachwurst quetschen, aus der vorn und hinten ranziges Pathos quillt?

Möglicherweise beginnst Du das neue Jahr ja damit, Deine Hirngespinste endlich zu hinterfragen. Auch wenn man sich eine Fama noch so triftig zurechtbiegt, so wird daraus doch keine Wirklichkeit. Und aus einem Kondensstreifen kein Chemtrail. Du forderst Respekt für Deine Gedankengebäude aus Angst ein. Willst Du nicht selbst mal dran arbeiten, Standpunkte und Lebenswirklichkeit deiner Nächsten zu respektieren akzeptieren immerhin zuzubilligen? Nein? Keine Bange. Darauf hoffe ich auch nicht wirklich. Warum solltest Du ausgerechnet jetzt beginnen, was Dir seit jeher entbehrlich schien? Wirst wohl weiterhin nur Dich selbst bemitleiden. Deine Schreckgespenster in die Herzen derer pflanzen, die Dir vertrauen. Ihre Empfänglichkeit mit klebriger Fürsorge vergiften, damit Du in Deiner Einsamkeit nicht so einsam sein musst. Bist dazu verdammt, in Endlosschleife jenen Aufmüpf vorzugaukeln, den Dir Dein kleinbürgerliches Sicherheitsbedürfnis dann doch immer wieder kaltlächelnd torpediert.

Was fürchtest Du denn so hysterisch, wenn Du Dich doch einmal an die eigenen Urängste wagtest? Der freimütige Blick nach innen könnte helfen, das Außen immerhin ein wenig weitherziger zu sehen. Womöglich bräuchte man diese Welt dann ja gar nicht mehr aus den Angeln heben, damit sie auch für Dich passt. Und vielleicht fändest Du auf diesem Weg sogar zu jenem innerem Frieden, dem Deine heillose Angst vor dem Leben schon viel zu lange wutschnaubend im Weg steht.

Venezia und Chrisi

Zwei junge Frauen schreiben mit wasserfesten Stiften ihre Namen auf ein Brückengeländer. Aufgeregt. Nicht einmal, sondern zigfach. Als wollten sie sich durch die stete Wiederholung ihrer Namen der besonderen Tiefe ihrer Gefühle füreinander versichern. Als sei überhaupt nur eine solche Manifestation imstande, Zuneigung verlässlich zu beweisen. Gegen jede Widrigkeit zu schirmen – vielleicht. Oder wollen sie einfach nur ihre Euphorie mit aller Welt teilen?

Das mag im vorletzten Herbst – kann geradeso eines frühen Sommers gewesen sein. So erinnere ich mich zwar der Aktion an sich, wohingegen ich Witterung oder andere Rahmenbedingungen längst vergessen habe. Frage mich seither beim Überqueren dieser Brücke immer mal wieder, ob die öffentliche Bekundung beider Gemütsbewegungen bereits überdauert hat, oder ob das gemeinsame Glück tatsächlich noch immer Fortbestand haben wird, wenn auch der letzte Buchstabe von der Sonne verblasst – und vom unermüdlichen Regen abgewaschen sein wird.

Der Heiligenberg …

… im September. Noch hat die Infrarotfotografie Saison. Marie hatte mir auf den Weg mitgegeben, man könne sich an weißem Grün irgendwann auch stattsehen. Das geht mir durch den Kopf, als ich mich in Position gebracht habe, um Schlossberg in Herbstsonne durch eine Waldschneise abzulichten. Ein kräftiger Herr, er mag in seinen Vierzigern sein, geht dasselbe Motiv eben mit einer sehr viel kleineren Kamera an. Seinen Dialekt ordne ich, aus einer verkramten Erinnerung heraus, irgendwo dem mittleren England zu. Tatsächlich bestätigt der Mann, in Sheffield aufgewachsen zu sein. Habe in jüngeren Jahren ein paar Brötchen mit Pressefotografie in London verdient, seither aber eher halbherzig und unmotiviert geknipst. Sei kürzlich erst auf die Streetfotografie verfallen, die sich mit einer klobigen D4 naturgemäß nur beschränkt befriedigend bewerkstelligen lasse. Schon, weil die Motive der Begierde angesichts dieses Kalibers gewöhnlich zwischen misstrauisch und verschnupft reagierten – zuweilen gar höchst unpossierlich zu posieren begännen. Was sich durchaus mit leidvollen Erfahrungen deckt.

Aus diesem Grund habe er schließlich die Lumix angeschafft. Schon weil die meisten Fotografierten hinter ihr nichts als einen weiteren Touristen sähen, der sie auf seinem gewünschten Erinnerungsfoto als Beifang oder notwendiges Übel in Kauf nähme. So sie ihn überhaupt bewusst wahrnämen, sobald er aus der Hüfte ballere. Dabei grient er wie ein Lausbub und präsentiert stolz die Ausbeute von zwei Tagen Alltäglichkeit in Heidelberg. Keine Frage. Der Mann verfügt zweifellos über Auge und Händchen und weiß, wovon er redet. Und ich bin ganz Ohr.

Freilich hat es nicht viel mehr Argumente gebraucht. Noch am selben Abend überführe ich eine Handvoll Kamera mit zwei Mausklicks in meinen Besitz. Ein Schäppchen – selbstredend. Dazu muss man wissen, dass ich ohnehin recht geübt im Erfinden von triftigen Gründen für unvernünftiges Handeln bin. Tatsächlich erlaubt das Klappdisplay ausgesprochen beiläufige Schnappschüsse aus jeder Perspektive, wenn man sich erst mit den Einstellungen und technischen Finessen vertraut gemacht hat. Und ich habe schon wesentlich mehr Knete für ein einziges mittelmäßiges Vollformat-Objektiv verschwendet. Mit diesem Werkzeug tun sich Möglichkeiten auf, die ich jahrzehntelang stur ignoriert habe. Seit ich die Kamera auf meinen Touren jederzeit griffbereit in der Tasche habe, gehe ich aufmerksamer durch die Stadt. Schaue hin. Nehme vermeintlich Gewohntes in ganz ungewohnter Weise wahr. Eine durchaus brauchbare Erfahrung.

Isegrim …

… war so ratlos wie traurig. Rotkäppchen hatte sich seit Tagen nicht mehr in seinem Wald sehen lassen. Dabei hatte er sich just eine weitere feine Maskerade ausgedacht, um seine unwölfische Gesinnung zur Schau zu stellen. Der schon ein bisschen altersblöde und sehr sentimental gewordene Schwerenöter hatte sein Herz an Rotkäppchen verloren und war drauf und dran, sich Ihretwegen komplett zum Narren zu machen. An Gelb-, Grün-, oder Blaukäppchen lag ihm hingegen grad mal gar nichts.

Mein Onkel aus Amerika

Als ich Kind war, musste ich meine Vorstellungen von fernen Ländern durch Annahmen oder Erfahrungen Erwachsener bestätigen lassen. Jener Erwachsenen jedenfalls, denen ein aufgeweckter Junge in einer Erwachsenenwelt mindestens Beachtung wert war. Dankbar kaufte ich Schwärmereien so unkritisch wie Vorurteile, weil das lange alles war, woran ich mich halten konnte. Auf diese Weise vermochte sich manche Absurdität nachhaltig zwischen meine Lauscher zu schleichen. Heutzutage stolpern substanzlose Behauptungen häufig über die kurzen Beine, weil sie bereits von einem geübten Zehnjährigen mit wenigen Mausklicks als schieres Palaver entlarvt werden können. Zudem hat es ungleich mehr Weitgereiste als damals, die es schon aus eigener Anschauung besser wissen.

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Happy Trails

Ich werde wohl nie begreifen, wie man sich in einem geöffneten Cabriolet freiwillig gegen die Welt verschanzen kann. Hinter bündig hochgekurbelten Scheiben und einem wehleidigen Windschott. So säße die Fönwelle selbst bei gestrecktem Galopp bombenfest,  erklärte mir mal einer mit tuntigem Unterton. Na dann! Sollte ich eines Tages tatsächlich damit anfangen, meine Fusseln in Form zu fönen, mag ich womöglich auch darüber nachdenken, im Fahrzeuginnern eines Roadsters jederzeit für Behaglichkeit zu sorgen. Wirklich vorstellen möchte ich mir das allerdings lieber nicht.

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Friede den Hütten

Prächtige Zeiten für Scharlatane und Wichtigtuer. Was treibt die Mühlen der Dummheit schließlich geschwinder an, als Halbwahrheiten, Gerüchte und Vorurteile? Was für gewöhnlich wenig nachhaltig und eher unbeachtet an beschmierten Scheißhauswänden verblasst, bekommt im Ausnahmezustand endlich seine Bühne. Ventiliert in beflissene Mikrofone, kriecht in empfängliche Ohren. Bahnt sich seinen Weg in verzagte Herzen und infiziert jede Vernunft. Fachliche Kompetenz, Seriosität und Relevanz werden hingegen panisch angezweifelt, diffamiert – und nicht selten massiv angefeindet, weil gerade die Wirklichkeit Angst machen kann.

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Bedeutungsloses Intermezzo

Candies

Das Sahneschnittchen an der Kasse wünscht einem Kunden einen schönen Tag - mit versiert gesüßter Freundlichkeit

Wie viel Raum böte sich einer ausschweifenden Phantasie, ließe sich ihr Lächeln in Verheißung umdeuten

In Wirklichkeit hat sein Empfänger dessen Erwiderung seinerseits zu einem knapp kalkulierten Zähnefletschen rationiert

So trennen sich beider Wege folgenlos - und sie haben einander wohl nicht einmal wahrgenommen

Was von den Träumen bleibt


Von all den maßlosen Luftschlössern steht wenig mehr als ein paar Ruinen - und es ist einsam geworden in ihren brüchigen Mauern

Wo einmal eine Leichtigkeit ihr Heim hatte - wie die Kleinlichkeit; wo Hingabe fiebrige Unrast zu besänftigen verstand und unerträgliche Trauer wütete, spuken nun, an Engherzigkeit zerschellte, Ideale

Auf kraftlosen Fittichen flattert ein arg zerzauster Übermut durch die verlassene Halle

In einer Nische betrauert verschwendete Jugend, was geschaffen war, zu verführen – honigsüß und zäh

Raschelnd treibt der Herbstwind vergilbte Illusionen und Ängste durch die endlosen Fluchten - und zuweilen meint man, in seinem Spiel eine tröstliche Weise zu erkennen

Eine unsichtbare Hand kritzelt rastos verbrauchte Worte an die Wände - wie Menetekel für ein Morgen, das doch längst beschieden ist
.
Vergisst kein Versprechen, nicht die verheißungsvollen - noch die vorsätzlich verletzenden

Erinnert selbst gedachter Bosheiten, notiert sie stoisch wie jene achtlos hingesagten, die stets die bleibenden Wunden schlagen
.
Hingegen Stellenwerte wie: "Erwartungen" , "Zuversicht“ , oder "Befürchtungen“ längst zu bedeutungslosen Silben zerfallen sind.

… und selbst die Unversöhnlichkeit irrlichtert, hinfällig geworden - weil auch von ihr nicht mehr übrig ist, als fader Nachgeschmack

Eine Welt nach den Menschen


Nächte werden wieder Nacht
ohne Mission und Destination treiben Schiffe
deren Wege nun durch Strömungen bestimmt sind
Für ihr Fortkommen zeichnen Fließgeschwindigkeit
und die Zufälligkeit von Hindernissen

Ein Asphaltband zerfließt bedeutungslos im Glast
Tromben tanzen im staubigen Grau der großen Ebene,
die in Menschenzeiten zum Schlachtfeld verkam
Wo einmal Hybris todbringende Wut entfesselte,
regieren nur noch Naturgewalten. Das sind die Tage

Greta

Ich sehe wahnsinnig gerne Werbung für Autos. Was heute alles geht, ist doch schier unglaublich. Der Offroader steht dabei ganz oben auf vielen Wunschzetteln, auch wenn die Natur ebenso unübersehbar immer weiter zurückgeschnitten wird. Stell dir bitte trotzdem mal folgendes Szenario vor:
Du bist auf dem Weg, ein paar Schnapper zu besorgen, die einem Krämer am anderen Ende der Stadt feil sind. Rekelst dich entspannt in deine fetten Aktivsitze. Cruist durch leere Avenuen in einer glitzernden City. Vom Trottoir her schmachten dich halbnackte Frauen unzweideutig an. Dich oder deinen mobilen Untersatz, was macht das für einen Unterschied? Für derlei hast du heute sowieso keine Augen. Bis eins mit der zügellosen Kraft dieser prächtigen Kalesche. Wozu braucht es eine Frau, wenn dir gerade auch ohne gewaltig einer abgeht?

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Erste Liebe

Weggabelung

Bleicher Februarmorgen in der Vorderpfalz. Eine Blaumeise zetert im Wipfel des kahlen Apfelbaums. Aus einem geöffneten Fenster am Dorfrand nudelt Schlagermusik. Allein – der mürrische Winter will noch nicht aufgeben. Kristallisation blockt Inspiration. Damit kann ich leben. Schalte ab, setze meine Schritte fokussiert. Hin und wieder stellen sich ein paar Erinnerungen ein. Suchen halbherzig und zerstreut nach Zusammenhängen, zerfleddern – wieder einmal. Werden beziehungslos und unangetastet ins abermalige Vergessen geweht.

Dann geschieht doch etwas. Zunächst ist nur ein gleichförmiges Brummen zu hören, dessen Lautstärke gleichmäßig zunimmt. Mit dem Näherkommen wird das typische Stakkato eines Boxermotors daraus. Von Westen her nähert sich ein gelber Doppeldecker, der zu einem kühnen Looping ansetzt. Womöglich probt der Pilot für einen großen Auftritt. Jäh und schmerzhaft reißt dieser Impuls den Schorf von einer nie verheilten Wunde.
     
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Heimat

Bermersheim

Samstag auf dem Lande. Lange Schatten
schweigend beschneiden Feldarbeiter Reben
vom Kirchturm her weht Geläut über die Wingerte
am Bahndamm lärmen Sperlinge in stachligen Hecken
Satzfetzen über einen gepflasterten Hof - und Kettengeklirr
aus zwei weit geöffneten Fensterflügeln - Kuchenduft und Gekeif
vertraut wie Versatzstücke aus der Vita eines sich fremd gebliebenen