Die dünne Haut der Seele (Exzerpt)

Ein Auszug aus einer Novelle, die ich bereits 2007 in Krakau geschrieben habe, als es in vielen Zügen noch Raucherabteile hatte. In dieser Erzählung geht es um Opfer physischer und psychischer Gewalt – und die unterschiedlichen Ansätze, mit seinen Wunden klarzukommen.

Valerie

Da sitze ich und flenne einen Regenbogen an. Erinnerung an einen fruchtlosen Kindertraum auch das. Wann immer ein Sonntagskind das Ende des Farbspektrums erreiche, dürfe es dort einen Schatz bergen, erzählte Großmutter bei solchen Gelegenheiten stets. Großmutter muss es wissen, dachte ich damals, denn wusste sie nicht um alles Wunderbare?

Unzählige Male habe ich mir als Kind gewünscht, auserwählt zu sein. Wie oft bin ich wie besessen dem fliehenden Ende eines Himmelsbogens hinterher gerannt, weil ich mir einredete, Gott irre sich nur in der Adresse. Lange Zeit argwöhnte ich, ich glaube einfach nicht demütig genug.

Jedenfalls war ich immer zu langsam. Immer! Zu langsam. Wahrscheinlich lachte sich Gott über meine raushängende Zunge jedes Mal schlapp. Erst viel später lernte ich, dass sich das Ende tatsächlich gar nicht einfangen lässt. So wie ich irgendwann begriff, dass ein Gott oft nur deswegen bemüht wird, um Abhängige gefügig zu halten. Das Prinzip ist so durchschaubar und läuft doch schon seit Anbeginn menschlicher Zivilisationen wie geschmiert.

Großmutter ist tot und mit ihr sind auch alle Illusionen in jenes kleine Karree gefallen, das nun ihre Wohnstatt ist. Wollte nicht mehr, konnte nicht mehr, hat mich eines Tages ebenfalls im Regen stehen lassen.

Die kindlichen Luftschlösser waren früh geplündert und bis auf die Grundmauern geschleift. Ich bin wohl nicht einmal an einem Sonntag geboren und so wird mir das Glück auch künftig schwerlich in den Schoß fallen. Schon von daher glaube ich gut daran zu tun, Fortuna mal einen kräftigen Tritt in ihren wankelmütigen Arsch zu verpassen.

Hagen

Ich besaß nie ein Kämpferherz. Mein Mumm taugt nicht mal zum passiven Widerstand. Immerhin brachte ich den fragwürdigen Mut auf, meine Perspektiven zu schmeißen. Für meinen Vater war es von jeher undenkbar gewesen, dass ich meinen Träumen folgte und Handwerker wurde. Uhrmacher wäre ich gerne geworden, oder Goldschmied. Tischler vielleicht, meinetwegen auch Schuster. Ich wollte etwas tun, das Bestand hat und wären es nur ein paar frisch besohlte Schuhe auf Zeit gewesen. Für Vater stand außer Diskussion, dass ich studiere, um die Firma eines Tages zu übernehmen. „Sein Lebenswerk fortführe, wenn er einmal nicht mehr sei“, wie er gewohnt pathetisch formulierte.

Vor ein paar Tagen schlich ich mich ohne Abschied aus seinen Plänen. Keine Bilanzen mehr, keine gesicherte Zukunft im Schlagschatten meines übermächtigen Vaters. Die Firma Sommer und Sohn ist Geschichte. Der Sohn ist perdu. Hat sich aus der Verantwortung gestohlen. Ein Sommer nach Vaters Geschmack wäre aus mir eh nie geworden. Mittlerweile ist mir alles eins. Ich möchte auch kein Handwerker mehr werden. Ich will nur noch vergessen. Die Weichen sind gestellt. Von nun an bin ich frei, mich jeder Zukunft zuzuwenden.

Die Bahnsteige glänzen in der Morgensonne, sind zu dieser frühen Stunde noch beinahe unbelebt. Lediglich auf einem der hinteren Geleise warten ein paar leicht angestaubte Waggons, deren Zeit ebenfalls gekommen sein mag. Sie entsprechen mir, warten nur auf mich, so will ich glauben. Sollen sie mich bringen, wohin sie wollen, mag der Zufall mein Ziel auswählen.

Die Waggons rumpeln gemächlich über den Rhein, beschleunigen ruckelnd Richtung Westen. Ein paar Kilometer flussabwärts soll einst mein Namensgeber das gestohlene Rheingold, den sagenhaften Schatz der Nibelungen, versenkt haben. Hagen der letzte Riese aus deiner Dynastie von Riesen. Hagen der finstere Held. Hagen, der treue Vasall. Hagen, der hinterlistige Mörder. Hagen, der schäbige Dieb.

Der Fahrtwind reißt an abgeschossenen Vorhängen, die nach dem Dunst verqualmter Vermögen miefen. Dezent dosiert dünstet die kunstlederne Polsterung jahrelange Absonderungen ungezählter Schweißdrüsen aus. Jugendliche Begehrlichkeit und frühe Verbitterung haben sich auf den Sitzbezügen in der Färbung überlagerter Erdbeeren selbst überdauert.

Die meisten der Kritzeleien bezeugen den Wunsch nach Selbstdarstellung. Andere mögen Ausdruck gärender Langeweile sein. Die inbrünstigen Botschaften handeln von der Liebe. Erinnern nicht selten an Stoßgebete. Beteuerungen, einer vermeintlichen Unsterblichkeit der Gefühle angemessen. Die meisten jener Eingeständnisse und Versprechen berichten freilich von den Sentimentalitäten längst vergangener Tage. All diese heissherzigen Beteuerungen sind längst verblasst., die meisten finden vermutlich nicht einmal mehr in einer trüben Erinnerung an jene Gefühlsduselei Platz. Jedes einzelne dieser Bekenntnisse erinnert meine Nachdenklichkeit auch nachdrücklich daran, dass die Welt nicht auf mich wartet. Sie hat an sich selbst genug.

Valerie

Die Schienen sind eher Schemen als klare Wahrnehmung. Auch das Freifahrtsignal ist nur als grünliche Verwischung erkennbar. Hinterher ist man immer schlauer. Binsenweisheit. Wie kann man nur so bescheuert sein, dem Verlorenen nach all den Jahren nachspüren zu wollen. „Lass das mal lieber, petit cœur “, hatte mich mein Bruder Marcel noch vorgestern gewarnt, aber ich wusste es ja wieder besser. Recht hattest du, mein Lieber. Einmal mehr ist dein Appell an meinen törichten Träumen abgeprallt. Was hoffte ich denn zu bekommen? Befriedigende Antworten? Logische Erklärungen etwa? Entschuldigungen womöglich? Väterliche Reue, mütterliches Verstehen? Linderung meines schrankenlosen Selbsthasses, des Ekels vor dem Leben selbst?

Gott, wie mir diese stur anhaftende Naivität auf die Nerven geht. Nach vorne wollte ich stets, immer nur vorwärts – mit dem Schädel voran, stur sogar gegen jede Vorsehung. Glaubte auf einmal, den Dreck, der doch längst gegessen war, wiederkäuen zu müssen. Kein Blick zurück, ich hatte es mir doch damals versprochen. Konnte ich den ganzen Mist nicht einfach liegen lassen, irgendwie ließ sich das Dasein doch immer ertragen. Ging ja bisher auch.

Wie viele Lektionen braucht es wohl, um in Erinnerungen den Schnee von gestern zu begreifen? Diese unsinnige Fragerei nach einem Sinn war doch schon vor fünfzehn Jahren kalter Kaffee. Es gibt keinen Sinn des Lebens, es gibt nur das Leben.

Ich wollte Marcel ja partout nicht glauben. So ist die ganze fein aufgeputzte Fassade an einem einzigen Vormittag abgebrochen Zwei Stunden später habe ich die kläglichen Reste dann selbst platt gemacht. So absurd, Valerie. Du warst verdammt nahe dran, diesen Burschen tatsächlich auszuknipsen. Einfach so!

Nein! Nicht „einfach so“. Hattest doch nur das Ziel verwechselt. Ganz wirr war der Kopf, ganz durcheinander vor Angst und Wut. Diese Scheissangst, die immer wieder aus deiner eigenen Hölle kriecht. „Der konnte dir doch so egal sein, dieser Bankmensch. Unvermutet stand da mit einmal die Vergangenheit vor der Mündung deiner Kanone. Vielleicht kannst du auf mildernde Umstände hoffen, weil dein eigenes Leben schon vor Jahren schon im Erbrochenen des Selbsthasses erstickt ist. Das ist es! Ich werde auf mildernde Umstände plädieren, weil ich sowieso längst tot bin.

So kannst du trotzdem nicht abdrehen, meine liebe Valerie. Da ist wohl die Hauptsicherung durchgebrannt. Warum musstest du nach all den Jahren auch in den Wurzeln deiner zertrampelten Jugend wühlen? Reiß dich doch zusammen und hör auf zu flennen, dussliges Luder. Bist stets gut zurechtgekommen, ohne das weibische Lamento.

Womöglich ist die ganze Geschichte nur deshalb so glimpflich abgegangen, weil du noch nie einen Gedanken an sowas verschwendet hast. Erst jetzt hast du angefangen zu denken – nachher, wo es wieder mal zu spät ist. Alter Falter, spulte sich dieser Film surreal ab. Alles lief so krass glatt, so en passant. Wie viele vermeintliche Geniestreiche mögen wohl tagtäglich an der Realität zerplatzen, nur weil ein winziges Detail eines fein ausgeklügelten Plans nicht hinhaut?

Da braucht einer nur davon überzeugt, sein, sein großer Tag sei ebenfalls gekommen. Hat das ganze armselige Sesselfurzerdasein davon geträumt, einmal Clint Eastwood spielen zu dürfen. Glaubt er bekäme endlich die Chance zu zeigen was er drauf hat. Ignoriert einfach deine Regeln, weil er sich zu viele Filme reingezogen hat, der Held. Versaut dir deinen gepflegten Plan, den du doch tausendmal vorher durchgegangen bist. Drückt auf den verdammten Alarmknopf, oder fährt dir sonstwie in die Parade. Hat dir deine prima Idee vermasselt, der unverbesserliche Optimist. Übersieht nämlich das Naheliegende. Es ist keineswegs sein Tag. Ganz und gar nicht.

Wie könnte es auch gleichzeitig dein und sein Tag sein? Klassisches Paradoxon, hätte der Mathelehrer jetzt gesagt. Und weil du nicht zulassen kannst, dass es sein Tag wird, weil dir das nämlich sonst deinen vermasselt, ziehst du erschrocken, verärgert oder gedankenlos den Stecher durch – und paff, trampelt einer von diesen Traumtänzern weniger den Erdball platt. Pustest dem Schwachkopf ein hässliches Loch in seine anmaßende Heldenbirne. Perforierst die just deflorierte Hybris und stampfst dafür ein halbes Leben lang den Lehm des Knasthofs. Ziehst endgültig die kleinen Kreise, die du doch nie mehr ziehen wolltest. Darfst Gefängnismauern anschreien – so, als genügten die Einfriedungen im eigenen Schädel noch nicht.

Was willst du überhaupt hier? Keiner wirft sich eben mal vor eine heranstürmende Lok, nur um ein einziges Mal traumlos durchzuschlafen. Ruhe zu finden, ohne die Angst vor dem Morgen. Sich zu verlieren im Stillschweigen der Seele – ohne diese Scheißträume jede Nacht. Zu einfach wäre das mal wieder, Valerie.

Dabei ist gar nichts einfach, schon lange nicht mehr. Du redest dir diese verdammte Trivialität nur immerzu ein, meine Liebe. Allein die Vorstellung, dass auch vom Körper nicht mehr übrig bleibt, als vom gefledderten Gemüt hat wenig für sich. Der geplatzte Balg, das blutige Gedärm, die fettigen Schlieren eines ungeliebten Daseins auf dem Gleisbett. Das kannst du mal ganz schnell vergessen meine liebe Valerie, so darf das nicht laufen.

Zumindest der Abgang sollte ein Triumph sein, Schneewittchen. Ganz großes Kino. Ergreifend schöne Valerie, ausgestellt in einem Glassarg womöglich. Die Parade der traurigen Zwerge. Maximal sentimental eben. Aber jede Inszenierung bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung. Gerade der finale Ausmarsch. Das will genau überlegt sein, damit man’s nicht versiebt. Da bleibt nur eine Chance. Was war das ganze Gezappel wert, wenn am Ende nichts bleibt als eine Zinkwanne voller Batz ? Wie wenig wiegt der Ekel gegen jene süßliche Erinnerung, die sich aus der menschlichen Sehnsucht nach vermeintlicher Vollkommenheit speist? Wer interessiert sich schon für das Gekröse der Schönheit?

Na ja – und endlich der Lokführer. „Da muss man drüber“ hatte einer von denen mal gescherzt. Männer müssen offenbar zwanghaft alles banalisieren. Wahrscheinlich, um nicht andauernd über die eigene Sentimentalität zu stolpern. So hart ist keiner. Wer kennt diese jämmerlichen Wichte schließlich besser als ich?