Ausschnitt der Erzählung: „Die Nacht ohne Morgen“, die ich im Herbst 2006 unter dem Eindruck einiger unerklärlicher Vorfälle in meinem näheren Umfeld, in Krakow geschrieben habe. Die Story ist wiederum Teil einer Novellensammlung mit dem Arbeitstitel : „Mleczarnia“- zu Deutsch: „Milchgeschäft“, aus den Jahren 2006-2008, deren Handlungsstränge sämtlich lose miteinander verknüpft sind.
Anfang Januar hat sich ein strenger Winter über großen Teilen Mitteleuropas festgesetzt. War schon Mitte November im Eiltempo über die uferlosen Weiten der osteuropäische Ebene herangestürmt und hatte jede sommerliche Leichtigkeit rückstandslos niedergewalzt. Führte Unmengen Schnees mit sich – und jenen nie nachlassenden sibirischen Nordost, der mit seiner schneidenden Beharrlichkeit noch jeden Tatendrang auszuhöhlen versteht.
Abrieb, Schmutz und Schnee überzieht den löchrigen Asphalt der Dorfstraße mit einer schillernd sämigen Melange. Da und dort liegen Hinterlassenschaften passierender Fahrzeuge verstreut, feste Klumpen schwarzglasigen Eispyrits. Wie verängstigte Tiere ducken sich die weit verstreuten Gehöfte unter bucklige Wächten. An jenem verhängnisvollen Januarnachmittag übernimmt der Tod das Regime in diesem Hochtal der polnischen Beskiden. Über fünf Menschen hat er den Stab gebrochen. Ihr Dasein ist gewogen und beschieden – an diesem Tag und zur vorbestimmten Stunde.
In dieser Stunde klammert sich der Überdruss an die Neugier, liegt sich das ewige Zerwürfnis der Generationen verzweifelt in den Armen. Jeder Gleichmut ist aus dem Tritt geraten, in nackter Angst verläuft sich alles Selbstmitleid. Selbst jene jugendliche Unrast, welche für gewöhnlich kaum einen Gedanken an die eigene Endlichkeit verschwendet, krümmt sich angstvoll unter der knöchernen Hand, die scheinbar so wahllos nach den Träumen vom Leben langt.
Gleichwohl verliert sich nicht jeder an jenem Nachmittag. Da grient zum einen der Dorftrottel, weil ihm der Tod nicht einmal Abstraktion ist. Dem jeder Tag einen neuen Taumel bedeutet. Der nicht um Vergangenheit noch um Zukunft weiß. Lallend gaukelt er auf der gekachelten Ofenbank hin und her. Kräht seiner Lumpenpuppe eines der holprigen Lieder eines beseelten Jetztseins.
Auch eine Greisin lächelt. In ihrem Festgewand erwartet sie den Engel der Ewigkeit, der nach all den Jahren des Wartens endlich käme, um sie heimzuführen. Will fest glauben, ihr Tag sei gekommen und mit ihm die Gewissheit, endlich ewige Zweisamkeit zu gewinnen.
Über ein halbes Jahrhundert zuvor hatte sie ihre Liebe bei der alljährlichen Kirmes in der Kreisstadt gefunden. Von Beginn an schienen sich die eigenen Erwartungen in des anderen Iriden zu spiegeln. Jeder für sich und bald schon miteinander wollten die im Gleichtakt schlagenden Herzen erkannt haben, im Gegenüber werde sich auch das eigene Glück erfüllen.
Ein launisches Schicksal aber hatte der Braut Jungfräulichkeit und ihrem Bräutigam ein frühes Ende bestimmt. Nur wenige Wochen später war er unter ein fahrlässig furioses Fuhrwerk geraten und die gemeinsame Zukunft unter den Hufen zweier durchgegangener Gäule zerstampft. Statt einer Hochzeit war der jungen Frau nur die Einsegnung des Geliebten geblieben.
So macht sie sich an jenem Januartag, beinahe sechzig Jahre verspätet bereit, rüstet fiebrig für das Wiedersehen. Ungeduldig geworden endlich malt sie die welk gewordenen Lippen an, bemalt sie erwartungsvoll und kirschrot.
Noch aber ist ihr Tag noch nicht gekommen. Nicht der abschiedslose Tod jenes fahlen Wintertags ist ihr bestimmt, sondern ein stiller, beiläufiger im kommenden Frühjahr. Einer jener einverständlich gewährenden Tode, wie sie einem erfüllten Leben manchmal zuteil werden.
Weiter oben am Skilift, wo man dem Bedürfnis nach sportiver Selbstbestätigung eine Schneise in den alten Wald geschlagen hat regiert derweil die Selbstgefälligkeit des Städters. Den eigenen Rhythmus längst einem urbanen Diktat untergeordnet, trägt er seinen teuer erkauften Lifestyle anmaßend und vorlaut auch in die hintersten Winkel der Welt. Paradiert in einer Art globalen Stechschritts pathetisch über seine eingeschläferten Instinkte. Hofft item, seinen bäurischen Habitus hinter einer Farce von Weltläufigkeit unsichtbar gemacht zu haben. Freilich würde nach diesem Nachmittag auch eine dieser Reisenden nicht mehr zu sich wiederfinden, nie wieder heimkehren in ihre Stadt.
Ein anderer verharrt reglos und offenbar gänzlich unbeteiligt an der einzigen Bushaltestelle des Dorfes. Er allein mag dem Kommenden gelassen entgegensehen. Womöglich beneidet er insgeheim auch jene, deren Träume für die Ewigkeit gezählt sind.
Von der Bergseite her nähert sich die sinnliche Silhouette eines Zweisitzers. In Höhe des Wartehäuschens verlässt das Coupe die eingefahrene Spur, wird sichtlich in den Sulz gesteuert. Eine breitwandige Woge brandet dem Wetterschutz zu, findet satt aufklatschend ihr Ziel. Nicht einmal darüber verzieht der Wartende die Miene, blickt nur unbewegt und wie abwesend an sich herab.
Sichtlich gehobene Stimmung hingegen im Fahrzeuginnern, gefletschte Gehässigkeit. All das registrierte ich freilich nur unterbewusst. Vermochte mich meiner Beobachtungen auch erst Tage später und nach und nach wieder zu erinnern. Im offenbaren Bestreben des Fahrers, wohl auch mich zu besudeln, brach das Fahrzeug schließlich aus. Schlug dergestalt nahezu ungebremst und frontal in einen sich bergauf mühenden Dreiachser ein.
Es braucht keine Worte, den Missklang brüsk abgewürgter Dynamik zu beschreiben. Ist doch jenes wattige Schweigen viel eindrücklicher, welches einem solchen Spektakel stets nachfolgt. Was von dem ganzen Desaster bleiben würde, mochten Selbstvorwürfe, mochte jene ohnmächtige Verzweiflung sein, die ein schroffer Tod unausweichlich nach sich zieht.
Dieses Leid war freilich anderen bestimmt. Diese hier werden wohl nie mehr leiden, lachen – dachte ich. Aus einem gerissenen Wasserkühler begann eine grünliche Sprühfahne zu fauchen.
***
An jenem denkwürdigen Wintertag begegnete ich also jenem Fremden erstmals – oder präziser, wurde ich seiner erstmalig bewusst gewahr. In einem Dorf in den polnischen Beskiden. Einem lächerlich kleinen Dorf nebenbei bemerkt, nicht viel mehr als ein beliebiger Fliegendreck auf der Landkarte Kleinpolens. Ein Dorf ohne nennenswerte Historie, zu unbedeutend seiner eigenen Erinnerung selbst für ein Denkmal.
Da ist der sorgsam sortierte Krämerladen, die winzige Holzkirche nebst kürzlich renoviertem Pfarrhaus, die Milchsammelstelle. Zwei, drei Dutzend Höfe vielleicht, von denen einige wenige Saisonlogis anbieten. Besagte zwei Gasthäuser ohne Logiermöglichkeit. Ein Hotel sucht man vergebens. Das Fehlen auch einer Tankstelle, des Postamts, oder eines Bankomaten etwa.
Alljährlich im Spätherbst stellt irgendwer den wackligen Schlepplift auf, den er im Frühjahr genauso regelmäßig abschlägt, um wieder Platz für die Sommerweiden zu schaffen. Eine allzu zuversichtliche Investition mit Perspektive jener Lift – womöglich. Viermal täglich immerhin pendelt der Kleinbus aus der Kreisstadt, Sommers wie Winters.
Seit drei Tagen hatte es beharrlich geschneit. Stiebte kristallin von den Giebeln, kreiselte unermüdlich aus weißglitzernden Bauerngärten. Die Freunde aus Łódź hatten erst fürs nächste Wochenende zugesagt. Zu frieren begann ich bereits am Mittwoch. Glaubte erfrieren zu müssen in meiner Einsamkeit. Hielt mir einmal mehr selbst nicht stand.
In der pastellfarbenen Pietät der Pizzeria ist blauer Dunst nicht gelitten. So suchte ich die gewachsene Gemütlichkeit ohne Umwege auf. Ein Familienbetrieb dieses Gasthaus seit beinahe zwei Jahrhunderten, wie ich seit meiner Ankunft wusste. An Wochenenden packte manchmal der einzige Sohn mit an, welcher in Kattowice Betriebswirtschaft studiere, wie mir seine stolze Mutter nebst montäglichem Bigos aufgetischt hatte.
Heute verlor sich neben mir nur ein weiterer Gast in der stattlichen Stube. Die Wirtsleute mochten sich vorübergehend in ihren Wohnräumen oder in der Küche aufhalten – vielleicht, um Vorbereitungen fürs Abendgeschäft zu treffen. So erhielt ich reichlich Muße, jenen Gast eingehender zu betrachten.
Selbst sitzend gab dieser Koloss noch eine beeindruckende Figur ab. Riesen wie er, löwenmähnig und vierschrötig, haben einfach etwas einschüchternd Archaisches an sich. Als müssten sie eben einem Bad aus Drachenblut entstiegen sein – in Vorzeiten, als es Lindwürmer – als es noch Riesen gab. Aus jenem Holz, aus dem ein Drachentöter geschnitzt zu sein hat. Eine mannhafte Erscheinung, hätte man zu jenen Zeiten vielleicht gesagt. Mein Eintreten schien der Mann nicht einmal bemerkt zu haben.
In sich gekehrt stierte er auf die massive Tischplatte, während die Pranken unablässig und wie suchend über deren rissige Oberfläche irrten. Dazu stieß er von Zeit zu Zeit vergrämte Seufzer aus. Sah mich aufblickend schließlich doch an. Wenn die Augen eines Lebewesens tatsächlich dessen Gefühlswelt widerspiegeln, wie alle Welt gemeinhin behauptet, musste dieser Mensch unbedingt beneidenswert sein, bemitleidenswert gleichermaßen.
Neugierig geworden, studierte ich ihn noch aufmerksamer als zuvor. Der Riese hatte sein Interesse ohnedies wieder der eigenen Tischplatte zugewandt. Ob er meine Aufdringlichkeit also nicht bemerkte, nicht bemerken wollte oder nur mit jenem Gleichmut ertrug, der das unverhohlene Glotzen gewohnt ist vermochte ich seinerzeit schwerlich zu entscheiden.
Je länger ich dieses Antlitz musterte, womöglich einzuordnen suchte, desto unbehaglicher wurde mir. Die Vollkommenheit schien mir mit sorgfältigerer Betrachtung von einem geradezu verwerflich impertinenten Überfluss, entbehrte zudem auf eine groteske Weise jedweder unvollkommenen Natürlichkeit.
Der Mann sah aus, als müsse eine verwirrte oder nachlässige Schöpfung ihrem Setzkasten ausschließlich das Auserlesene entnommen haben, um es geradewegs in dieses Gesicht zu verpflanzen. Habe sich jenes reichhaltigen Sortiments der Natur womöglich gar absichtsvoll bedient, um daraus das verletzende Ebenmaß – oder die bizarre Synthese eines menschlichen Antlitzes zu formen. Nicht zuletzt verletzte eine absolut kompromisslose Symmetrie jenes verwirrende Missverhältnis der Komponenten und ihrer Quintessenz. Das Gesicht meines Gegenüber schien der Einfachheit halber vertikal über die Mittelachse gespiegelt.
Nichts weniger gebärdete sich dieses so verstörend Absolute etwa maskenhaft oder sonstwie leblos. Gleichwohl machte es mit zunehmender Beobachtung den Anschein, als sei auch die Mimik irgendwie falsch – fehlerhaft eingepaukt oder – ihrer eigentlichen Absicht jedenfalls widersprechend, unbegreiflich stümperhaft zusammengesetzt. So grimassierte die Vollkommenheit der einzelnen Bestandteile in ihrem Zusammenspiel nicht etwa gewohnt intuitiv oder adaptiv, sondern in einer geradezu abstoßenden Paradoxie gegeneinander.
Insbesondere letztgenannter Umstand ließ mich daran zweifeln, die Welt dahinter könne wirkliche Kindheit erlebt haben. Zumindest musste sich dieser Mensch, konnte sich dieses Wesen, bereits als Kind affektiver Bewegung nur gänzlich verschlossen haben. Des ungeachtet vermochte ich allein des ausdrucksstarken Augenspiels wegen das Gefühl nicht loszuwerden, als leide der Mann nachgerade Höllenqualen.
Die Ursache – oder doch immerhin einer der anzunehmenden Auslöser jener inneren Bewegungen sollte mir keinesegs länger verschlossen bleiben. Eine junge Frau stieß die Tür auf, gelbe Skistiefel an den Füßen, einen Teddybären in der Linken. Zwar erinnere ich mich des Gesichts der Frau als ausgesprochen hellhäutig, doch sind ihre Gesichtszüge meiner Erinnerung nicht mehr verhaftet. Der Fellzausel in ihrer Hand brannte sich hingegen ein.
Wie die kontrastierende Aura ihres verschwenderisch wattierten schwarzen Skianzuges wirbelte ein übermütig stiebendes Grellweiß, drängelte sich die Maßlosigkeit blinder Wut mit ihr durch die Türfüllung. Die Tür blieb offen, während die Frau ansatzlos anklagend auf den Schweigenden eindrang. Dieser war bei ihrem Eintreten sofort aufgestanden – aus Höflichkeit, aus Verlegenheit womöglich. Selbst sein Gesicht schien in Erwartung eingefroren.
Welk und wehrlos baumelten auch beide Arme an ihm herab. Nur in seinen Augenwinkeln meinte ich es schimmern zu sehen. Schließlich warf die Frau das Fellbündel mit einem höhnischen Lachen in diese fahle Vereisung. Ohne bedingten Reflex oder sichtbare Gemütsbewegungen nahm der solchermaßen Gedemütigte auch diese Grobheit entgegen, während die Frau sich, endlich abgeladen achtlos abwandte. So stürmte sie, schmerzliche Stille hinterlassend, zurück in das Stieben und ihrem Ende entgegen.
Die knollige Nase des Bären lag auf dem gefliesten Boden, saugte die Nässe einer schmutzigen Lache auf. Während der Gescholtene schließlich seufzend das leblos Gefallene aufnahm, machte es dergestalt den Anschein, als habe auch der der kleine Wollpetz Tränen vergossen.
Die Blicke des Riesen ruhten auf dem genähten Gesicht, tasteten sorglich die schwarzsamtene Nasenspitze ab, musterten die glänzenden Knopfaugen. Dabei liebkoste die Linke täppisch den Kopf des Bären. Beinahe schien es, als wolle er das Unbeseelte mit seiner hilflosen Geste trösten. Schließlich legte er den Bären fürsorglich auf der Tischplatte ab, streifte seinen Shearling über und verließ grußlos die Gaststube. Das beschmutzte Fellbündel ließ er liegen.
Obgleich ich bereits mehrfach nach Bedienung gerufen hatte, rührte sich im Haus nichts. So zapfte ich mir kurzerhand selbst ein Zywiec, hinterließ den obligaten Fünfer auf dem Tresen. Verließ das schützende Obdach eine knappe Stunde nach meinem Eintreten wieder. Zwischenzeitlich hatte es aufgehört zu schneien. Auch war der nervende Nordost war seit Wochen erstmals gänzlich eingeschlafen.
Das Leben hatte sich in seinen Behausungen verschanzt. Der Tod hielt inne, maß diesem Nachmittag seine eigene Planmäßigkeit zu. Das Werden verhielt ohnedies in einem deprimierenden Schweigen. So begrub die einsetzende Dämmerung Verhaftetes und Bewegliches, Anorganisches wie Atmendes unter ihrem fahlen Leichentuch.
Erstarrt ruhte auch die Dorfstraße, zuwartend so kam es mir vor. Ausgeliefert das ganze Dorf der Sehnsucht nach Bestehen. Getragen nur von der bangenden Hoffnung auf weitere Morgen. Das griesig gewesene Wolkengewoge gewandete sich unterdessen in scheinheiliges Pastell, kokettierte mit der sorgsam geweißelten Erde. Einzig jener Fremde wartete an der Haltestelle. Den gewachsenen Pelzkragen hatte er nun schützend hochgeschlagen.
Mir war plötzlich, als sei ich aus der trügerischen Geborgenheit jener Gaststube in die grindige Unschärfe sorglich bedeckter Aufschürfungen der Seele gewechselt, krustige Erinnerungen an kindliche Wunden mithin. Falle gleichsam in das träge, kaum wahrnehmbare Aufbrechen jahrzehntelang verdrängter Vernarbungen. Dümpele in wundbrandiger Flüchtigkeit. Drohe in der schwärenden Vergeblichkeit eines vermeintlich verschwendeten Gestern zu versinken.
Zurück in die Klarheit der Unschuld hätte ich mich ohnedies nicht mehr zu retten vermocht. „Zu spät, zu spät schon lange“, hörte ich es in mir schreien. Die Courage hätte ohnedies nicht zurückwollen. Als genüge das nicht, schienen sich nun gerade im Entfalten alle gangbaren Wege zu verschließen. Auch das sich dafür einzig Öffnende, ein zögerlich Oszillierendes, verhieß kein Entkommen. Zu vertraut auch dieses schon längst, um noch Zuversicht nähren zu können.
„Mach endlich einmal einen Schritt“, schwieg mich eine bedenkenlose Verwegenheit an, „denk ihn nicht nur wieder und wieder.“ Aber wohin denn wenden? Je eindringlicher das zagende Gemüt seinen eigenen Weg zu finden sucht, desto intensiver gedeiht die Beharrlichkeit, jenem Fühlen endlich Struktur verleihen zu wollen. Der trügerischen Ordnung vertraut spiralen Denkens zu unterwerfen gewissermaßen. Eine verzweifelte Panik vor dem Absturz ins uferlos Schutzlose dominiert jedes Denken, negiert das Fühlen.
So grübelte ich die beherzteren Emotionen einmal mehr ins Abseits. Verfing mich wie so häufig in den Eventualitäten eigenen Wankelmuts. Wandte mich ab vor der ungewissen Eigendynamik jeder Initiative. Verurteilte mich abermals zu teilnahmslosem Zuschauen. Gab mich schutzlos dem angewiderten Riechen und Schmecken des Abgestandenen preis. Setzte mich abermals dessen Ertragen aus. Verdammte mich womöglich dazu, in allen Empfindungen selbst schon in Bälde gänzlich abgestumpft zu sein. Vergessen zu werden endlich, mitsamt dieser menschenfeindlichen Einöde.
Kaltgestellt nach dem Aufspüren jeder argwöhnischen Gefühlsabweisung ohnedies – in unermüdlich kräftezehrender Selbstregulation, lockte mich jenes kalte Kreiseln abermals weiter von mir weg, beharrlich und unnachgiebig. Schwieg mich in seine schrundigen Abstraktionen – und zwang mich zunehmend in selbstzerstörerische Ausweglosigkeit.
„Woher“, hätte ich gegen das erneute Ertrinken in verfänglichen Grübeleien anschreien wollen, „woher soll auch jenes tröstliche Erinnern kommen, woher die Zuversicht auf ein geborgenes Morgen? Wer oder was will denn Menschlichkeit gebären, wenn nicht die willentliche Menschwerdung des Menschen unter seinesgleichen?“
Wie oft hatte ich berechnend Zuneigung erschlichen, war mit süßen Worten aus schönen Mündern tausendmal selbst betrogen. Wer aber hätte denn auf meine Verzweiflung hören sollen, wenn nicht ich selbst?
Einstweilen verlief sich meine Furcht unverhallt. Mir war, als müsse ich mich in frevelhaften Gedanken aufs Neue verleugnet haben.In seiner Beschämung über die eigene Unschlüssigkeit verkrieche sich nun sogar der Himmel unter seine rötlich schimmernde Wolkendecke. Sei ohnedies seit jeher schon gottverlassen gewesen. Mochte sich in seiner Verwirrung über seinen Verlust bereits selbst verschmerzt haben. Ziehe sich verschämt in die Selbstgerechtigkeit seiner zweifelhaften Existenz zurück. Wende sich ab also von jener stumm machenden Menschenfurcht, es werde fernerhin nie mehr schneien, regnen, hageln können – nicht einmal um einer universellen Gerechtigkeit willen.
Diese Wolken – nein, alle Wolken eines einst bläulich schimmernden Planeten seien von dieser unseligen Stunde an ausschließlich dazu verurteilt, sich im Leiden über eine im Stich gelassene Schöpfung pochend auszubluten. Pulsierend zu ergießen über lächelnder Selbstbeschwichtigung. Zu röten die allenthalben bedenkenlos zur Schau getragene Schamlosigkeit selbstgefälliger Moral.
Niemals mehr – so glaubte ich damals, werde ich nach dem Gesehenen je noch einmal schreien können, aufbegehren wollen. Nicht gegen die stotternden Herzbewegungen dieser Erde, nicht um eines abgewandten Himmels willen. Kein Leid diesseits oder jenseits werde mir je wieder ein Poltern abtrotzen, aber wie stumm könnte ich denn fortgesetzt bleiben? Nach haltlosem Weinen war mir. Wollte ich doch damals glauben, Tatzeuge geworden zu sein. Zeugnis darüber ablegen zu können, dass sich die Liebe zu jener Stunde und in jenem Gasthof wutschnaubend und hohnlachend aller Inhalte beraubte.
Jäh zerriss ein Martinshorn die fahle Leinwand. Der Krankenwagen raste vorüber und in Richtung der Skipiste. Mit seiner Präsenz klirrte alle elementare Angst von mir ab. Schreien hätte ich endlich können, schrie aber nicht.
***
Was man derweil auf der Dorfstraße zu sehen bekam, war wohlfeil ausgestellte Endgültigkeit. Der schweigsame Sammler der Seelen hatte nicht lange zum Reigen bitten müssen. Von einer Sinnlichkeit der Formgebung war nach der bizarren Blechorgie nichts geblieben als das zufällige Design der Destruktion. Gratig, abweisend und in sich zerrissen. Anstelle der Frontscheibe klaffte es nur noch wie ein gelangweiltes Gähnen. Weder Blechscheren noch Schneidbrenner würde es brauchen.
Auf der dampfenden Motorhaube warteten die zwei Insassen des Sportwagens, abholbereit. Gerichtet bereits. Mit zerschlagenen Gesichtern, Stigmata gehässiger Gelächter. Ruhten nun so reglos beieinander, wie es sie noch kurz zuvor einträchtig geschüttelt hatte. Wie totgelacht lagen sie da. Ein Mann und eine Frau – gewesen. Ein miteinander vertrautes Ehepaar vielleicht, zwei flüchtige Bekannte, ein heimliches Liebespaar oder zufällige Arbeitskollegen, was spielte das noch für eine Rolle? Zwei beliebige Schnittstellen nur noch bis man sie begraben würde, eine Woche oder zwei. Belanglos geworden selbst ihr Geschlecht schon.
Desertierende Blutfäden suchten sich ihre Fluchtwege über gekrumpeltes Walzblech. Zweier Körpersäfte fanden sich ein letztes Mal. Tropften eilig nieder auf das matte Rau der Stoßstange, perlten nachlässig in den Schmutz, rote Lebensperlen, abgeschiedene Perspektiven, verrinnende Gemeinsamkeit gleichfalls. Wollten nicht mehr teilhaben und waren doch zweier Träume Teil gewesen. Versickerten gedenkenlos gerinnend im Schneebrei.
Der Gasthof brannte lichterloh, die Haltestelle stand verwaist. Die stetig gärende Trägheit dörflichen Daseins war einer Hysterie der Schaulust gewichen. Die bleierne Todesangst hatte einer befreiten Euphorie Platz gemacht. Vereinzelt hörte man sogar befreites Lachen.
Der Tod war weiter gezogen, hinüber ins Slowakische womöglich. „Weg mit ihm“, mochten seine Zaungäste aufatmend gedacht haben „nur weg“. Andererseits musste man endlich einmal nicht jene beneiden, die ansonsten stets so wortreich von den vielfältigen Ablenkungen in den Städten zu berichten wussten.
Nur Eines Litanei suchte noch immer seinen Weg zum Himmel und aus dem raunenden Gaffen. Verhallte resonanzlos. Der Pfaffe liege seit Stunden im Mittelschiff der Kirche auf dem Bauch und plärre um Vergebung, murmelte ein ledergesichtiger Landmann angewidert. Auf der Skipiste habe es wohl ebenfalls eine Tote gegeben, vor wenigen Minuten erst. Das wusste atemlos aufgeregt ein Heranwachsender.
Als die auch Feuerwehr aus der Kreisstadt endlich eintraf, war die zweihundertjährige Familientradition bereits in einem wütenden Glosen untergegangen. Der Student in Kattowice ahnte nichts.
Das Unendliche, die Schöpfung hüllte sich in rötliches Schweigen. Hatte mutmaßlich sich selbst vergessen. War womöglich ohnedies immer schon ohne Inhalte, ohne Tränen, war seit jeher schmerzlos gewesen. Ich hatte genug. Noch am selben Abend ließ auch ich dieses Grauen hinter mir und reiste der Weichsel und einem tröstlichen Gleichmaß zu.
„Blutiger Mittwoch in den Beskiden!!!“, titelte schon am nächsten Tag eine Krakauer Gazette. Drei fette Ausrufezeichen hakten Fünfer Dasein ab. Die verkohlten Leichen des Gastwirtsehepaares hatte man in ihrer Küche gefunden. Im rußigen Schädel der Frau stak noch die Spitze eines Schürhakens. Das weltvergessene Dorf am Rande Polens war für einen Tag zum Denkmal geworden. Auf die Idee, dass ich als letzter Gast dieses Verbrechens selbst verdächtig sein müsse, kam ich zunächst freilich nicht ….
